Patrick Holzapfel

VERENA BERNHARDT/ANIGMAFILM

Einblicke von Patrick Holzapfel

kinoleuchten

Ich weiß nicht, ob das traurig ist oder schön, aber ohne Filme hätte ich nicht gewusst, wie ich meinen Arm um die Schulter eines Mädchens lege, das ich mag.

Ich hätte nicht gewusst, wie ich meine Haare tragen könnte, und ich hätte eine völlig andere Beziehung zu fremden Kulturen. Ja, ich glaube sogar, dass ich durch Filme ein wenig weiß, wie es sein wird zu sterben. Das mag etwas übertrieben anmuten, entspricht aber meinem anhaltenden Gefühl, dass Filme meine Erfahrungen mit der Welt ergänzen und erweitern und ihnen manchmal erst die emotionale Bedeutung verleihen, die sie zu etwas Besonderem macht. Denke ich darüber nach, was das Kino für mich bedeutet, erinnere ich mich immer an meine ersten, etwas verlorenen Schritte in Wien. Als Landkind war ich zwar hungrig auf die große Welt, aber die Großstadt überforderte mich schnell. Alles leuchtete mich an, und nichts leuchtete mir ein. Ich suchte - und ich denke, dass ich damit nicht allein war - Orte, die mir vertraut waren. Angekommen bin ich in Wien erst, als ich die Kinos entdeckte: das Österreichische Filmmuseum, das Gartenbaukino, das damals noch altehrwürdige Stadtkino oder das Burg Kino. Plötzlich waren da diese Orte, an denen alles gleich zu bleiben schien und an denen man doch jedes Mal ein neues Leben beginnen konnte.

Im Kino leben

Irgendwie versprach ich mir von diesen Orten und den dort gezeigten Filmen, dass sie mich in die Geheimnisse der Welt einweihen und vorbereiten würden; auf ein Leben, das ich irgendwann auch leben wollte. Was ich überhaupt nicht bedachte und was mich an diesen Orten mehr und mehr überraschte, war, dass ich dort nicht allein war und dass es dort bereits ein Leben gab. Ich entdeckte eine Sprache, einen Kleidungsstil, einen Lebensstil, den jene teilten, die sich abendlich in die Dunkelheit der Kinos verabschiedeten. Ich lernte Menschen kennen, die für und durch das Kino leben: Besessene, Träumer/innen, wie vom Mond gefallene Gestalten der Nacht, die mich mitnahmen auf eine Reise, die bis heute andauert. Sie berichteten von Unglaublichem, Unerhörtem und Wichtigem, und ich wollte wie sie ein Entdecker werden, ein Schatzsucher. Ich wurde ein Kosmopolit in einer Illusionsmaschine. Selbst wenn sich manches im Bezug zum Kino für mich relativiert hat, bleibt da doch dieses Gefühl, mehr zu sehen, mehr zu hören und einen neuen Blick auf die Welt zu erhaschen. Diese Erfahrungen knüpfen sich nicht an spezifische Filme. Trotzdem bin ich immer wieder Filmen begegnet, die mich anzusehen schienen, Filme, die mich besser kannten als ich sie. Ich lernte schnell, dass es für mich keinen Unterschied macht, ob diese Filme alt oder neu sind. Vor mir auf der Leinwand sind sie immer in meiner Gegenwart. Daher entwickelte ich schnell eine Nähe zu den Kinematheken und zur Viennale, auf der mir die Retrospektive mindestens so wichtig ist wie die vielen aktuellen Filme, die gezeigt werden.

Ein kollektives Gedächtnis

Und dann sehen einen die Filme an: ein junger Mann aus Taiwan mit Nackenschmerzen und der Melancholie des Unverstandenseins in Tsai Ming-liangs The River; ein verzweifelter Herr aus dem Iran, der seine über alles geliebte Kuh verloren hat, in Die Kuh von Dariush Mehrjui; ein Bauernmädchen, auf deren Zunge Bienen schlafen und das von größeren Welten träumt in Land der Wunder von Alice Rohrwacher; und dieser Satz aus einem Film von Jonas Mekas: "You look at the sun, then you return home and you can’t work, you’re impregnated with all that light."

Die Beispiele ließen sich endlos fortführen. Ich ging nicht mehr allein ins Kino, all diese Bilder formierten sich zu einem kollektiven Gedächtnis. Es war wichtig, dafür ins Kino zu gehen. Die Filme, die ich zu Hause sehe, verschwinden. Im Kino vermischt sich die Erinnerung an die Filme mit dem Geschmack in der Luft, den Menschen, mit denen man den Film betrachtet, dem Weg nach Hause. Gerade auf Festivals wie der Viennale verstand ich die Freude an diesen geteilten Erinnerungen: die aufgeregten Diskussionen, die euphorisierten Begegnungen, dieses Gefühl, dass man etwas begreifen kann, wenn man nur die Augen offen hält.

Irgendwann habe ich dann verstanden, dass es trotz all dieser persönlichen Erfahrungen nie wirklich um mich ging. Es ging immer darum, die anderen zu sehen, sie wirklich zu sehen. Wir scheitern täglich daran, aber im Kino schaffen wir es manchmal. Selbst wenn ich weiter scheitere, glaube ich doch - auch wenn es etwas altmodisch klingen mag - ein besserer Mensch geworden zu sein, weil ich ins Kino gegangen bin.

Text: Patrick Holzapfel, Autor, Filmemacher und freier Kurator. Er ist Chefredakteur des Blogs "Jugend ohne Film" und arbeitet im Bereich "Content, Texts & Research" für die Viennale

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