La realidad y el deseo

10. Mai 2024, 06:57

Luis Cernuda, 1902 in Sevilla geboren, lässt seine "Ersten Gedichte" 1927 in der spanischen Zeitschrift "Litoral" erscheinen. Das fünfte Gedicht, titellos, beginnt wie folgt: "Ninguna nube inútil/ Ni la fuga de un pájaro/ Estremece tu ardiente/ Resplandor azulado."

Das Gedicht beginnt also mit einem strahlend blauen Himmel, der von keiner Wolke und keinem Vogel zum Erzittern gebracht wird. Das lyrische Ich betrachtet diesen Himmel, spricht ihn an, und erkennt ihm gegenüber die eigene Nichtigkeit. In der dritten Strophe heißt es: "Aclaras felizmente / Nuestra nada divina." - Glücklich erleuchtest Du unser göttliches Nichts.

Doch dieses Oxymoron ist nicht das Ende. In den letzten beiden Strophen löst sich die Gegenüberstellung zwischen Ich und Himmel auf. Oben und unten greifen ineinander und in syntaktisch schwebenden Formulierungen heißt es am Schluss: "Sobre la tierra estoy/ Déjame estar. Sonrio/ A todo el orbe; extraño/ No le soy porque vivo." - "Über dem Boden bin ich, lass mich; Ich lache dem Erdkreis zu, dem ich nicht fremd bin, weil ich lebe."

Was ist geschehen? Offenbar ein Höhenflug! Das lyrische Ich ist in jeder Hinsicht flügge geworden und mit einem Mal selbst Teil des Himmels. Sich seiner dichterischen Bestimmung und Lebendigkeit bewusst, segelt es lachend über den Erdkreis.

Nun, in Wahrheit hatte Luis Cernuda wenig zu lachen. Seine frühe Dichtung findet keinen Anklang, bis zu seinem Tod 1963 im mexikanischen Exil bleibt er ein literarischer Außenseiter. Gegen Ende seines Lebens stellt Cernuda sein gesamtes lyrisches Schaffen unter ein Begriffspaar: "La realidad y el deseo" - die Realität und das Begehren.

Rückgeblendet auf sein frühes fünftes Gedicht interpretiere ich diese Geste so: Die Realität, das ist die Erde und der Himmel - das Begehren.

Service

Dominik Barta, "Vom Land", Verlag Zsolnay
Dominik Barta, "Tür an Tür", Verlag Zsolnay

Podcast abonnieren

Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler