Geschichten über Bosnien

Berichte aus der dunklen Welt

Schwer zu sagen, ob man die vier Texte dieses Bands Erzählungen oder Essays nennen soll. Sie kreisen jedenfalls alle um Bosnien, das von Kriegen, Bürgerkriegen, Kulturkämpfen aller Art geprägte Land zwischen Saveebene und Dinarischen Alpen.

Als "dunkle Welt" bezeichnet man in der persischen, byzantinischen, arabischen Kultur jenes mythische Zwischenreich, in dem Reisende, Forscher, Gottsucher mit ihrer ureigenen Wahrheit konfrontiert werden. In den abendländischen Kulturkreis übertragen wäre etwa die Gralsburg Parzivals "dunkle Welt". In seinem neuen Buch weist der bosnische Dichter Dzevad Karahasan auf eine interessante Parallele hin: Auf dem ganzen Balkan wird "Die Dunkle Welt" auch als Synonym für Bosnien verstanden.

Es beginnt im Wirtshaus

Dzevad Karahasan überschreitet die Gattungsgrenzen zwischen Erzählung und Essay, spielt souverän mit der Form, schert sich nicht um literaturwissenschaftliche Kategorien. Dem bosnischen Autor geht es offenkundig um die innere Wahrheit seiner Texte - in welche Schublade man sie ablegt, scheint ihn nicht weiter zu kümmern.

Drei der vier Geschichten beginnen im Wirtshaus. Stets sitzt ein Ich-Erzähler, der mit Dzevad Karahasan identisch zu sein scheint, mit einem oder mehreren Freunden in einem Lokal, stets werden Probleme gewälzt.

Die Erzählung "Anatomie der Traurigkeit" nimmt im Café "Il Saggiatore" in Piacenza ihren Ausgang. Da sitzt der Ich-Erzähler mit einem Freund aus besseren Zeiten und lässt sich dessen Geschichte erzählen, die Geschichte eines verpfuschten Lebens. Man könnte auch sagen: Der Freund berichtet aus der "dunklen Welt" seiner Melancholie, ein Ort, an dem er mit seiner eigenen Wahrheit konfrontiert wird, der Wahrheit nämlich, dass er nie, fast nie, geliebt hat.

Orient und Okzident

Die Texte, die Dzevad Karahasan in seinem Erzählband versammelt, sind zwischen 35 und 70 Seiten lang. Auch die letzte, vielleicht spannendste Erzählung beginnt im Wirtshaus: Der Ich-Erzähler sitzt mit Freunden im Gastgarten des Restaurants "Moric-Han" in Sarajewo und unterhält sich über Bosniens blutige Vergangenheit - und über das Verhältnis zwischen Orient und Okzident.

Da passierte mir etwas, was mir leider immer häufiger passiert, obwohl ich mich zusammenzureißen versuche. Ich begann einen Monolog, mit dem ich nichts beweisen oder erklären wollte, sondern nur meine Nervosität ausagierte.

Das ist pures Understatement, denn Karahasas Erzähler beweist sehr wohl etwas: dass sich Abendland und Morgenland im Grunde nie füreinander interessiert haben, auch im Frühmittelalter nicht. Um das Jahr 800, so erfahren wir, schickt Karl der Große eine Delegation zu Harun al-Raschid nach Bagdad. Die Gesandten überbringen Geschenke und kehren, vom Kalifen ihrerseits fürstlich beschenkt, an den karolingischen Hof zurück.

Stille, nachdenkliche Texte

Karahasan hat orientalische und okzidentale Chroniken verglichen und stellt gravierende Unterschiede fest. Zwar berichten die Geschichtsschreiber beider Kulturen übereinstimmend von den unerhörten Schätzen, die der Kalif nach Aachen hat schicken lassen, damit enden aber auch die Gemeinsamkeiten. Von den Kostbarkeiten, die von Bagdad aus die Reise in den Norden antraten, hat eine Wasseruhr den größten Widerhall in der orientalischen Geschichtsschreibung gefunden, ein Meisterwerk der Uhrmacherkunst, das von der technischen und zivilisatorischen Überlegenheit des Morgenlandes künden sollte. Karahasan stellt fest, dass diese Uhr in europäischen Geschichtsbüchern zwar gelegentlich erwähnt wird, dass ihr aber weit nicht die gleiche Bedeutung beigemessen wird wie in den orientalischen Quellen.

Bitte versteht, worauf ich mit der Geschichte hinaus will: Sie haben sich nicht gehasst, sie waren einander im Grunde völlig gleichgültig. Wir werden hier mit der Illusion eitler Menschen konfrontiert, die meinen, sie seien durch die bloße Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft etwas Besseres als die Mitglieder anderer Gemeinschaften.

Genau diese Haltung ist es, die Karahasan in seinen stillen, nachdenklichen Texten bekämpft. Dass dieser Kampf so schwer, so mühsam, vielleicht aussichtslos ist, wie es bisweilen den Anschein hat, kann einen durchaus melancholisch stimmen: eine Melancholie, die Dzevad Karahasan zu sanften, intensiven Geschichten destilliert hat.

Service

Dzevad Karahasan, "Berichte aus der dunklen Welt", aus dem Bosnischen übertragen von Brigitte Döbert, Insel Verlag