Gisela Heidenreich, Therapeutin und Mediatorin
Herrenrassenzucht
Als Erwachsene trifft sie ihren totgeglaubten Vater bei einem Kameradschaftstreffen. Bewegt vom Wiedersehen verdrängt sie die Tatsache, dass dort SS-Leute sitzen. In ihrer Autobiografie beschreibt Gisela Heidenreich die Suche nach einer problematischen Identität.
8. April 2017, 21:58
Heidenreich über heutige Ausleseverfahren
Nach dem Tod der Mutter stößt die Familientherapeutin und Mediatorin Gisela Heidenreich in einer Kommode auf Kartons. Vor ihr liegt ein Stapel von Liebesbriefen...
Gisela Heidenreich: ...und es war erst einmal ein Schock, noch einmal eine ganz andere Seite meiner Mutter zu erleben, nachdem ich ja dachte, mit meinem ersten Buch mit ihr meinen Frieden gefunden, von ihr die relative Wahrheit über ihr Leben erfahren zu haben. Und dabei gab es eine noch weit intensivere Verstrickung in das Nazi-Regime, die eben über 1945 hinausging. Sie hat mir über den "Lebensborn" quasi nur die Spitze eines Eisbergs erzählt. Und das andere war eigentlich das viel, viel Schwerwiegendere. Weil dieser Mann doch eine ganz massive Nazi-Vergangenheit hatte.
Michael Kerbler: Also Ihre Mutter war in dieser SS-Unterorganisation mit dem Vereinstitel "Lebensborn e.V." zuerst Sekretärin und später auch für Adoptionen zuständig. Ihre Mutter ist mit Ihnen im Jahr 1943 aus Bad Tölz nach Oslo gegangen. Sie sind in Norwegen auf die Welt gekommen...
... und meine Mutter hat mich 6 Monate nach der Geburt zurückgebracht nach Deutschland. Und dann hab ich bis zum Kriegsende in Bad Tölz bei ihrer Schwester gelebt, und zwar als norwegisches Waisenkind. Denn sie hat ihrer Familie nicht gesagt, dass ich ihr Kind bin.
Für Sie war am Anfang Ihre Mutter die Tante?
Ja. Meine Mutter taucht in meinen Erinnerungen sehr viel später auf, weil sie ja auch nicht da war. Sie hat in der "Lebensborn"-Zentrale in Steinhöring - nachdem in München das Gebäude ausgebombt war - bis zum Ende, bis zum 5. Mai, gearbeitet, bis die Amerikaner einmarschiert sind. Da ist sie zwei Tage vorher - wie sie mir erzählt hat - nach Hause geschickt worden, während die Leiter auch dort verhaftet worden sind. Die haben die Stellung gehalten.
Der "Lebensborn" war eine SS-Unterorganisation, gegründet von Heinrich Himmler am 12. Dezember 1935. Absicht war, die Geburt "erbbiologisch und rassisch wertvoller Kinder guten Blutes von Müttern und Vätern guten Blutes" zu fördern. Die Geburtenrate war damals sehr niedrig. Das NS-Regime hat befürchtet, dass die Deutschen aussterben werden. Es hat viele Abtreibungen gegeben, einen hohen Frauenüberschuss nach dem Ersten Weltkrieg um fast zwei Millionen Frauen. Es sind alle Maßnahmen gesetzt worden, um die Geburtenrate zu pushen - aber nur für Frauen, die dem rassischen Ideal der nordischen Rasse entsprochen haben. Man hat das nach Kriegsende etwas geschichtsverfälschend nicht richtig bewertet: Es war keine karitative Organisation, es war keine Entbindungsanstalt, es war eine Institution, die nach rassischen Gesichtspunkten operiert hat und nicht zufällig eine Unterorganisation der SS war.
Natürlich! Das ist für mich auch der wesentliche Punkt. Dieses Verharmlosen, das Sie bis heute noch hören, das ist ja mit ein Grund, warum ich dieses Buch über den "Lebensborn" geschrieben hab, weil ich immer nur diese beiden Legenden gehört habe: Entweder es war so was Bordellartiges, so eine Institution, wo die SS-Männer sich verbunden haben - oder durften oder mussten sogar - mit blonden, blauäugigen Frauen, um dann eben dieses Produkt "arische Rasse", "nordisches Volk", "Herrenrasse der Zukunft" in einer "Zuchtanstalt" zu produzieren.
Aber das andere war - das Schlimmere und Schrecklichere an der ganzen Geschichte -, dass es natürlich irgendwie die Kehrseite der Medaille Holocaust war. Auf der einen Seite hat man "unwertes Leben" vernichtet, und auf der anderen Seite hat man in diesem Rassenwahn behauptet, dass eben Menschen, die groß, blond und blauäugig sind, auch die besseren Menschen sind. Und man hat ein Stück diese anderen Menschen auch ersetzen müssen.
Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 15. März 2007, 21:01 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipps
Gisela Heidenreich:
"Sieben Jahre Ewigkeit - eine deutsche Liebe", Droemer Verlag, ISBN 9783426273814
"Das endlose Jahr - die langsame Entdeckung der eigenen Biographie - ein Lebensborn-Schicksal", Fischer Taschenbuch, ISBN 3596160286
CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop