Austauschprozesse und Veränderungen

Der Pizza-Effekt

Der Begriff Pizza-Effekt bezeichnet kulturelle Rezeptions- und Austauschprozesse. Dabei wird ein kulturelles Gut, das im eigenen Land nicht (mehr) sehr viel gilt, über den Kontakt mit einer anderen Kultur um- und aufgewertet.

"Ist nicht das Judentum ein einziger Pizza-Effekt? Nicht nur ist das Judentum wie die Pizza erst nach dem Exodus entstanden und bloß in der Diaspora zu dem geworden, was es ist. Die eine einzig wahre Pizza gibt es ebenso wenig wie das einzig wahre Judentum. ... Wer je Italiener streiten hörte, ob, was mit einer Ananas daherkommt, noch eine echt italienische Pizza genannt werden kann, erinnert sich an manche Debatte zwischen Orthodoxen, Reformern und Konservativen", schrieb der österreichische Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici Anfang 2006 in der Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften Trans.

Nach Ansicht von Doron Rabinovici eignet sich der Begriff Pizza-Effekt hervorragend dafür, den ständigen Wandel von Kulturen zu beschreiben. "Der Begriff stellt klar, dass es eine Ursprünglichkeit der Kultur nicht gibt, sondern dass sie immer schon Assimilation war", und dass jene, die zurück zum Wesentlichen wollen, "nicht erklären können, was das Wesen dieser Kultur sein soll."

Vom Arme-Leute-Essen zum Nationalgericht

Geprägt wurde der Begriff Pizza-Effekt von dem 1923 in Wien geborenen Leopold Fischer, der unter dem Namen Agehananda Bharati später viele Jahre als Hindu-Mönch in Indien verbrachte und schließlich Anthropologie an der Syracuse-Universität in den USA lehrte. Manche kulturellen Rezeptions- und Austauschprozesse, die er selbst beobachtete, erinnerten ihn an den Werdegang der Pizza

Die Pizza, so Agehananda Bharati, sei in Italien ein Arme-Leute-Essen gewesen. Nachdem sie mit Emigranten in die USA gekommen und dort mit neuen Auflagen zu einer respektablen Speise geworden war, habe sie ihre Rückreise nach Italien angetreten und es zu einer Nationalspeise gebracht.

Teil der Entwicklung von Religionen und Kulturen

Der Pizza-Effekt lässt sich auch beim Yoga, beim Buddhismus in Sri Lanka und in der Rezeption der "Geschichten aus 1001 Nacht" feststellen. Der durch die Kolonialherrschaft bereits westlich beeinflusste indische Yoga, der in den Westen kam, wirkte sich hier auf Meditationstechniken und -vorstellungen aus. Der Yoga wurde psychologisch verbrämt und wird heute im Zuge der Wellness-Welle genutzt. Zugleich wird er seit Jahren für ständig neue Personen wie etwa Schwangere oder Kleinkinder - die ursprünglich sicher nicht zu seinen Zielgruppen gehörten -adaptiert.

Viele dieser Tendenzen werden nun von den neuen indischen Mittelklassen rezipiert. Es geht nicht mehr um das Management des nächsten Lebens, sondern des jetzigen Lebens, betont der in Bangalore lehrende Soziologe Gopal Krishna Karanth. Und dieses Bedürfnis kann sich eine zahlungskräftige indische Elite erfüllen. In der IT-Hochburg Bangalore boomt nicht nur die Software-Branche, sondern - so wie in den USA und in Westeuropa - auch das Geschäft mit der Spiritualität.

Pizza-Effekte sind für den an der US-amerikanischen Harvard-Universität lehrenden Religionswissenschafter Christopher Queen ein gängiger Teil der Entwicklung von Religionen und Kulturen. Den Begriff Pizza-Effekt will er keinesfalls negativ verstanden wissen, denn Austauschprozesse und Veränderungen sind nicht wegzudenken aus den Kulturen.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 12. Dezember, bis Donnerstag, 14. Dezember 2006, 9:30 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendereihe "Radiokolleg" (mit Ausnahme der "Musikviertelstunde") gesammelt jeweils am Donnerstag nach Ende der Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipps
Wiebke Walther, "Tausendundeine Nacht", Eine Einführung, Artemis Verlag, München 1987, ISBN 3760813313

"Tausendundeine Nacht", ins Deutsche übertragen von Claudia Ott, Beck Verlag, München 2005, ISBN 3406516807

Karl Baier, "Yoga auf dem Weg nach Westen", Königshausen und Neumann Verlag, Würzburg 1998, ISBN 3826014146

Link
Trans - Text von Doron Rabinovici