Kempowski kann's

Alles umsonst

Kaum ein Autor ist berufener, das Drama der Flucht aus Ostpreußen in einem großen Roman darzustellen. Walter Kempowski erzählt die Geschichte einer Familie im letzten Kriegswinter. In seiner gespenstischen Groteske liegen Grauen und Komik nah beieinander.

Das ostpreußische Städtchen Mitkau ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Kann es auch nicht sein, denn Walter Kempowski hat es erfunden, als Idealtyp biederer Fachwerk-Gemütlichkeit im äußersten Nordosten des Deutschen Reichs. Der behagliche Ton, den Kempowski auf den ersten Seiten seines Romans anschlägt, wirkt fast verstörend.

Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreußen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen wie eine Hallig im Meer... Früher einmal war das zweistöckige Gebäude gelb gestrichen. Nun war es gänzlich von Efeu bewachsen, im Sommer hausten darin Stare. Jetzt, im Winter 1945, klapperte es mit den Dachziegeln: Ein eisiger Wind fegte kleinkörnigen Schnee von weither über die Äcker gegen den Gutshof.

Klassisches Gartenlaube-Personal
Der Jänner `45 war einer der opferreichsten Monate des Zweiten Weltkriegs. Auf Gut Georgenhof scheint man davon nichts zu bemerken. Eberhard von Globig, der Hausherr, steht im Felde, wie man das nennt; übertriebene Sorgen muss man sich um ihn nicht machen: Der Mann dient in der Etappe. Ansonsten leben die Menschen auf Georgenhof das beschauliche Leben von Figuren, wie "Gartenlauben"-Autorin E. Marlitt sie nicht anschaulicher hätte erfinden können.

Da ist die Hausherrin Katharina von Globig, eine verträumte Schönheit, die mit der Führung des Guts heillos überfordert scheint. Da ist das sogenannte "Tantchen", ein ältliches Fräulein mit Putzfimmel, das dem 12-jährigen Sohn des Hauses, Peter, als penible Erzieherin zur Seite steht. Motto: "Ein deutscher Junge muss sich auch mal die Finger waschen." Peter wiederum, ein stilles, ernstes Jüngelchen, hockt Tag für Tag über seinem Mikroskop, um in knabenhaftem Forscherdrang Salzkristalle, Fliegenbeine, Stecknadelköpfe zu untersuchen. Dazu gesellen sich wechselnde Gäste, die dem Georgenhof als Besucher die Ehre geben. Lothar Sarkander zum Beispiel, der schmissgesichtige Bürgermeister von Mitkau. Er hat einst, im Sommer 36, eine heimliche Liaison mit der Gutsherrin unterhalten. Oder Studienrat Dr. Wagner: Er stiefelt Tag für Tag durch Eis und Schnee auf den Georgenhof hinaus, um Sohn Peter als Hauslehrer zu unterrichten. Deutsch, Geschichte, Englisch. "I have washed, you have washed, he has washed..."

Der Krieg kommt nach Seite 200
Wie weiland Karl Kraus lässt auch Kempowski Operettenfiguren zum blutigen Totentanz antreten. An den Fronten fallen Tag für Tag Zehntausende, deutsche Großstädte werden mit Flächen-Bombardements in Schutt und Asche gelegt, KZ-Häftlinge sterben auf Todesmärschen wie die Fliegen, auf dem Georgenhof aber macht man Hausmusik.

Es dauert ein Weilchen, bis auch die Bewohner des Georgenhofs mit den Schrecknissen des Krieges konfrontiert werden. Nach knapp 200 Seiten Junkeridyll lässt Kempowski die Rote Armee ihren Sturm auf Deutschland beginnen.

Noch in der Nacht brach es im Osten los. Ein unaufhörliches Rollen hinter dem Horizont, und der Himmel hell erleuchtet! Kein Zweifel: jetzt ging es los.
Im Radio hieß es, dass die lang erwartete Offensive der Roten Armee nun losgebrochen sei. Aber niemand von den vertierten Untermenschen aus dem Osten werde je deutschen Boden betreten, sagte der deutsche Kommentator mit fester Stimme, das könnten sie sich gesagt sein lassen!


Welch ein Irrtum!
Überstürzt reihen sich auch die Bewohner des Georgenhofs in den Flüchtlingstreck ein, der schon seit Tagen und Wochen am Gutshof vorbei in Richtung Westen strömt. Tantchen verstaut das Familiensilber nebst Kannen mit Schmalz und Zucker auf dem geräumigen Ackerwagen, die englischen Stahlaktien stopft sie rasch noch in die Handtasche, ihr Neffe Peter zieht derweil zwei Hosen übereinander an, Hemden, Pullover, alles doppelt und dreifach, Fremdarbeiter Wladimir macht zwei Gespanne reisefertig, dann kann's losgehen. Auch Dr. Wagner sucht das Weite. In der Wandervogelkluft seiner Jugend erklimmt der Pädagoge einen der letzten Pferdewägen, die noch in Richtung "Altreich" in Marsch gesetzt werden.

Typischer Kompowski-Stil
Walter Kempowski ist ein Autor, der sein Handwerk versteht. Er schreibt farbig und anschaulich, wie immer unterfüttert er seinen Text auch diesmal mit Schlagertexten und Alltagszitaten, die vergangene Erfahrungs-Horizonte lebendig werden lassen. Ein Stil, den der Autor auch in den dramatischen Fluchtpassagen aufrechterhält. Kempowski macht sich keine Illusionen über die menschliche Natur: in Ausnahmesituationen scheint sie ihre schlimmsten Seiten zu offenbaren. Lakonisch wird in Kempowskis Roman geschildert, wie jeder sich selbst der nächste ist auf dem großen Flüchtlingstreck. Hunderttausende ziehen nach Westen, ein Hobbessches Pandämonium, in dem alle, fast alle, lügen, heucheln, stehlen und betrügen. Feigheit, Egoismus, rücksichtsloser Überlebenswille sind die hervorstechenden Eigenschaften jener Menschen, die unter anderen Umständen vielleicht gute Nachbarn wären.

Und die Flüchtlinge vom Georgenhof? Sie scheinen schnell voranzukommen, zumindest am Anfang. Westwärts, heißt die Devise. Nur nicht nach hinten schauen.

Da kam ein einsames Flugzeug geflogen, langsam die Straße entlang, über den Treck dahin. Es wackelte und warf Bomben auf die Wagenkolonne, man konnte die Bomben sehen, wie sie heruntersegelten. Eine davon fiel neben die Kutsche mit dem Tantchen und dem schlafenden Peter. Der Wallach stieg brüllend auf und fiel über die Deichsel, und das, was von dem Tier übrig war, streckte sich. Die Kutsche stürzte um, und Peter lag im Freien.
Das Flugzeug kam noch einmal zurück, der Pilot wollte wohl wissen, ob er getroffen hatte. Machte er Striche auf seinem Schreibblock? Eins, zwei, drei, vier, fünf Pferdewagen vernichtet?
Zur Sicherheit schoss er noch einmal mit dem Maschinengewehr die Kolonne entlang. Dann zog er eine Schleife über das Feld hinweg und holte neue Bomben.


Alle, alle sterben
Das Tantchen ist tot. Der russische Flieger hat sie vom Kutschbock gebombt. Kempowski schildert auch die ungeheuerlichsten Begebnisse in schlichtem, fast möchte man sagen: gemütlichem Tonfall. Ein faszinierender Kunstgriff. Auf diese Weise entfaltet der Roman eine verblüffende Form von unterschwelliger Subversivität. Alles hat einen doppelten und dreifachen Boden in diesem Text. Gegen Schluss hin wächst sich "Alles umsonst" zum furiosen "Dance Macabre" aus. Alle, alle müssen sterben, Hauptfiguren, Nebenfiguren, wer immer eine Rolle gespielt hat auf den ersten 300 Seiten. Der Weltkrieg frisst seine Kinder. Nur Peter, der 12-Jährige, scheint zu überleben.

Walter Kempowski hat ein imponierendes, auch ein anrührendes Buch geschrieben, eine gespenstische Groteske, in der Grauen und Komik nah beieinander liegen. Die Schrecknisse der Vertreibung mit fein nuanciertem Galgenhumor zu schildern, ohne sie zu verharmlosen, so etwas muss man können. Kempowski kann's.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Walter Kempowski, "Alles umsonst", Knaus-Verlag 2006, ISBN 3813502643