Zivilisationshistorische Betrachtungen - Teil 1

Die Stadt und der Müll

In der Geschichte unseres Umgangs mit Müll stellt sich eine Frage ganz fundamental: jene von Macht und Ordnung. Die Frage ist: Wie bilden sich allgemein verbindliche Verhaltensnormen und Sozialstandards heraus? Wer legt diese fest?

Wie die amerikanische Ethnologin Mary Douglas anhand zahlreicher von ihr untersuchten Kulturen gezeigt hat, wird die Beseitigung von Abfall, Müll und Schmutz stets als positive Anstrengung angesehen, die Umwelt zu organisieren, sie zu gestalten, zu ordnen. Müll ist - unabhängig davon, was wir jetzt konkret darunter verstehen - zuallererst Ausdruck von Un-Ordnung. Und daraus resultiert auch die von ihm ausgehende Gefahr, aus diesem Moment der Irritation, aus der Infragestellung einer bestehenden Ordnung. Müll verweist stets auf etwas "Außer-Ordentliches", auf die Möglichkeit der Schaffung neuer Bedeutungen und Sinnzusammenhänge.

Im Zeichen der Aufklärung
Die Frage ist nun: Wie bilden sich allgemein verbindliche Verhaltensnormen und Sozialstandards heraus? Wer legt diese fest? Wie setzen sie sich durch?
Es war ein langer zivilisatorischer Weg, bis sich die geregelte Straßenreinigung und Müllabfuhr - wie wir sie heute in Europa kennen - durchsetzte, bis sie dauerhaft implementiert und gesellschaftlich akzeptiert wurde - ein Vorgang, der im Wesentlichen vom ausgehenden 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert vor sich ging.

Historisch-topografisch gesehen waren es vor allem die Städte, in denen die Anwesenheit von immer größeren Menschenmengen auf nur beschränkt verfügbarem Raum schon früh zur Regulierung des Umgangs mit Schmutz und Unrat zwang.

Das Ideal der sauberen Stadt

Abfälle aller Art auf der Straße zu entsorgen war Jahrhunderte lang selbstverständliche Praxis. Auch in Wien, wo die Stadtverwaltung die Bevölkerung beispielsweise im Jahre 1560 aufforderte, ihren Mist "nicht wie bisher auf offenen Plätzen oder in Winkeln und Gässchen" auszuleeren, sondern mittels "Karren und Wagen aus der Stadt an die ausgezeigten Orte zu bringen". Eingehalten wurden diese Anordnungen jedoch nur in den seltensten Fällen, wie einschlägige Aufrufe und Infektionsordnungen auch aus späterer Zeit nahe legen.

Um das Ideal der "sauberen Stadt" durchzusetzen, bedurfte es zunächst einmal einer neuen Vorstellung von Gesundheit. Deren Bewahrung löste sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich aus der individuellen Verantwortung des Einzelnen heraus. Die Idee des Wohlfahrtsstaates entstand, die davon ausging, dass der Staat die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern habe.

Dabei spielten jedoch weniger moralische als vielmehr bevölkerungspolitische Überlegungen eine Rolle, insofern der Staat den ökonomischen und nicht zuletzt auch militärischen Wert einer ausreichenden Anzahl gesunder und leistungsfähiger Untertanen erkannte. Eine "medizinische Polizey" wurde geschaffen, die die Kontrolle und Durchsetzung hygienischer Vorschriften in allen Lebensbereichen übernahm.

Wider die Miasmen
Das wichtigste Werk dazu veröffentlichte 1791 der deutsche Arzt Johann Peter Frank. Er wies in seinem sechsbändigen "System einer vollständigen medicinischen Policey" darauf hin, dass sich vor allem die Städte schädlich auf die Gesundheit ihrer Bewohner auswirkten. Hauptursache dafür waren gemäß der damals herrschenden "Miasmentheorie" die allerorts aus dem Boden aufsteigenden fauligen Dünste, also die übel riechende Luft.

Ärzte begannen die einzelnen Stadtteile auf ihre Gesundheitsgefahr hin zu untersuchen und vor dem "giftigen Brodem" zu warnen, den zu "trinken" die Bevölkerung ständig genötigt sei. So bildete sich zuerst in den Städten eine neue Gesundheitsorientierung heraus, vertreten und gefordert von dem nach politischer Macht strebenden Bürgertum mit seinen neuen Vorstellungen von Recht, Fortschritt und Moral. Von nun an sollte die Gesellschaft entscheidend eingreifen in die Art und Weise, wie die Gefahren der Verunreinigung wahrzunehmen und einzuschätzen seien und wie man ihnen zu begegnen habe.

Gesellschaftliche Reinigungsprozesse
Eine wesentliche Rolle spielte dabei auch eine neue Wissenschaft: die Hygiene. Aufbauend auf den Erkenntnissen der Chemie, Physik, Physiologie und Statistik, wurde sie zur einflussreichen Gesundheitslehre, die sich bald auch auf universitärem Boden etablierte (in München 1865, in Wien 1875). Insbesondere die Subdisziplin der "Stadthygiene" wurde schon bald zu einem Instrument der Kontrolle und Disziplinierung, mit dem die herrschenden Klassen nicht zuletzt die um sich greifende gesellschaftliche Verunsicherung und Instabilität in den Griff zu bekommen hofften. Strategien zur materiellen wie sozialen "Reinigung" der Städte wurden entwickelt und umgesetzt.

Zwang zur Reinlichkeit
Vordringlichstes Anliegen war zunächst die regelmäßige Reinigung der Straßen. Dabei galt es nicht nur Kot, Tiermist und Unrat zu beseitigen, es war vor allem die enorme Staubentwicklung, die eine der übelsten Belästigungen darstellte. Bereits 1782 hatte Joseph II. in Wien die Hauseigentümer dazu verpflichtet, die Straßenabschnitte vor ihrem Haus zweimal täglich mit Wasser zu besprengen; und noch im selben Jahr verfügte er eine weitere Maßnahme. Er ließ Sträflinge und "liederliche Weiber" zum Gassenkehren anhalten.

Damit sollte die Stadt gleichzeitig vom Unrat befreit und durch moralische Besserung der Kriminellen vor der "sozialen Infektion" geschützt werden - eine Strategie, die man auch in anderen Städten wie Paris oder Bern anwandte. Nicht zuletzt auf Grund des häufigen Gespötts der Passanten wurde diese Art der öffentlichen Zwangsarbeit in Wien nach zwei Jahren wieder abgeschafft. Die Arbeit verrichteten fortan Taglöhner, die bald zu Hunderten, Unrat kehrend und Wasser aufspritzend, durch die Straßen zogen.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts forcierte man die Befestigung der Verkehrswege mit würfelförmigem Granitpflaster. Weniger stark frequentierte Straßen wurden mit Rollschotter belegt und bisweilen - zur Eindämmung der Staubplage - mit speziellen Öl- und Teerpräparaten versiegelt.

Fortschrittsmotor Weltausstellung
Wichtige Impulse für Stadtreinigung und hygienische Reformen gingen schließlich von den Weltausstellungen aus. Im Jahr 1873, als Wien zum Schauplatz eines derartigen Großereignisses werden sollte, mahnte ein besorgter Zeitgenosse im Vorfeld: "Das Weltausstellungsjahr ist da. - Eine Schar weit gereister Leute wird unsere Residenz besuchen und wir dürfen ihnen nicht das Schauspiel einer schlecht gesäuberten Stadt bieten, wie sie es gegenwärtig doch in Wirklichkeit ist."

Wettbewerb der Metropolen
Dies erschien umso dringender, als sich der Wettbewerb um Modernität und Fortschritt zwischen den führenden europäischen Großstädten zunehmend verschärfte und es für die Metropole Wien schlicht um ihr Prestige als Reichshaupt- und Residenzstadt ging. Maßnahmen für eine Intensivierung der Straßenreinigung wurden denn auch ebenso gesetzt wie die zusätzliche Aufstellung mobiler Abortanlagen oder erste Versuche mit Asphaltpflaster.

Für die Zukunft entscheidend war jedoch, dass mit der im selben Jahr eröffneten Ersten Hochquellenwasserleitung und dem weiteren Ausbau von Kanalisation und Müllabfuhr immer größere Teile der Bevölkerung ihre Fäkalien und Abfälle auf hygienische Weise entsorgen konnten, sodass sich der Druck auf die Straße allmählich verringerte.

überarbeitete Fassung eines Textes, erschienen in: Christoph Scharff/Christian Stiglitz (Hg.): Abfall zwischen Lifestyle und Verdrängung, Wien 2005

Mehr zur Entwicklung der Müllabfuhr in Wien in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
Diagonal "Zum Thema: Mist - Was von unserem Leben überbleibt", Samstag, 11. November 2006, 17:05 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

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Buch-Tipp
Peter Payer, "Sauberes Wien. Stadtreinigung und Abfallbeseitigung seit 1945", Holzhausen Verlag 2006, ISBN: 385493131X