Verbundenheit trotz Trennung

Ein Gesicht - zwei Leben

Wenn am 1. November die literarische Welt Ilse Aichingers Geburtstag begeht, feiert eine betagte Dame in London ebenfalls Geburtstag: Helga Michie, ihre Zwillingsschwester. "Ich war immer sehr froh, dass da zwei von uns da waren", meint sie.

"Wenn man mich gefragt hat, bist du die Ilse oder die Helga, habe ich selber manchmal nachdenken müssen, wer ich bin." Das Verhältnis von Helga Michie zu ihrer Zwillingsschwester Ilse Aichinger ist auch heute noch sehr nahe. "Weil der Anfang zusammen ist bei identischen Zwillingen und das Zusammensein bleibt", sagt Helga, trotz oder gerade wegen der Unterschiede.

Gute-Nacht-Geschichten

"Sie war immer sicherer als ich, in allem, was sie getan hat", erzählt Helga. "Meine Schwester war zum Beispiel in der Schule sehr gut, während ich nur mittelmäßig war."

Ilses literarisches Talent zeigte sich schon früh. "Sie hat immer am Abend, wenn wir schon vorm Einschlafen waren, ganze Romane erzählt von allen möglichen Leuten. Eines hat 'Gretchen im Turm' geheißen, das hat sie immer weiter fortgesetzt und ich habe immer schon mit Ungeduld auf die nächste Fortsetzung gewartet", erinnert sich Helga.

"Deutscher Wertmaßstab"

Die ersten Jahre ihrer Kindheit verbringen Ilse und Helga in Linz, bis zur Scheidung der Eltern in den späten 1920er Jahren. Nach der Trennung ziehen Helga und Ilse mit ihrer Mutter nach Wien. Die Zwillinge besuchen die Schule, zunächst den Sacré Coeur, später das Ursulinengymnasium. Dort geschah es eines Tages Anfang der 1930er Jahre, dass Ilse für einen ihrer Aufsätze vor der gesamten Klasse gelobt wurde.

"Die Lehrerin hat gesagt, dass meine Schwester dem deutschen Wertmaßstab der Sprache so nahe ist", erinnert sich Helga. "Da ist meine Schwester aufgestanden und hat gesagt, das ist aber sehr merkwürdig, Frau Professor, weil meine Mutter Jüdin ist. Das war schon sehr mutig von meiner Schwester, das zu sagen."

Das sind Juden, erklärte die Greißlerin schräg gegenüber der Wohnung unserer Großmutter, wenn wir zu ihr um Milch oder Zucker kamen, und zeigte über den Ladentisch auf uns hinunter. Das vorher eilende und drängelnde Publikum, das sie anbiedernd Theres nannte, kam wieder langsam zurück und betrachtete meine Schwester und mich. Wir gingen rasch wieder hinaus, kamen atemlos bei unserer Großmutter an und erzählten kein Wort davon. (aus Ilses "Der Boden unter unseren Füßen")

Abschied im Juli 1939

Im Sommer 1939 ergibt sich eine Fluchtmöglichkeit. Helga kann im Juli ihrer Tante nach England folgen, die als eine von Tausenden Akademikerinnen als Hausgehilfin nach England kommt. Ilse und ihre Mutter bleiben in Wien.

Am 4. Juli 1939 gilt es, Abschied zu nehmen. "Ich erinnere mich, am Vormittag sind wir noch durch die Straßen gegangen und haben gesprochen", Helgas Zug fuhr am Abend ab. Über diesen Tag schreibt Ilse:

Wenn ich zurückdenke, so scheint mir dieser 4. Juli mit seiner flimmernden Hitze seiner Hoffnung nachzukommen, auch auszuwandern, uns wieder zu treffen in England oder Amerika. Er scheint viel länger gedauert zu haben, als ein Tag dauern kann. Während der ersten Septembertage ging er zu Ende.

Die Namen werden weniger

Sechs Jahre sollte es dauern, bis sich die Schwestern wieder sehen. Kontakt war nur über die Rote-Kreuz-Nachrichten möglich. 25 Worte waren erlaubt, aber was kann man in 25 Worten schon sagen? Ilse löste das Problem auf ihre Art: Sie zählte Namen auf. Mit der Zeit fehlten immer mehr Namen auf der Liste, Namen von denen, die abtransportiert wurden, die umgekommen sind.

Der Krieg war hilfreich für mich. Was ich da mitangesehen habe, war für mich das Wichtigste im Leben. Der Krieg war voller Hoffnung.

"Die Hoffnung ist immer da", versteht Helga die Gedanken ihrer Schwester, "die Hoffnung, dass etwas gut geht, und auch die Angst, dass es nicht gut geht. Hoffnung und Angst haben sehr viel miteinander zu tun."

Wiedersehen 1947 in England

Ende 1947 unternehmen Ilse und ihre Mutter jene Reise, auf die sie seit dem Abschied im Sommer 1939 gewartet haben: nach London. Ilse schreibt darüber:

Der erste große Eindruck, den ich nach den Kriegserlebnissen hatte, war eine Reise nach England. Es war auch das erste fremde Land, das ich sah. Vielleicht ist es mir deshalb gleich vertraut gewesen, weil das Meer dort überall nahe ist, weil einen das Bewusstsein, auf einer Insel zu sein, das Gefühl der Küstennähe dort nie verlässt. Das spiegelt den Abschied im Raum wider und gibt zugleich die Kontur. Die Menschen auf den großen Kontinenten vergessen viel zu oft, dass sie auf Inseln leben.

"Ich bewundere meine Schwester sehr, so sehr, dass sie einmal gesagt hat, du sollst aufhören mich zu bewundern und sollst was Eigenes machen." So fing Helga zu zeichnen an. Sie schreibt auch Gedichte, englische Gedichte, nicht veröffentlicht, bis auf zwei Zeilen, die Ilses Erzählband "Elisa, Elisa" vorangestellt sind.