Andreas Hirsch über das immaterielle Kulturerbe - Teil 1

Einbalsamierte Folklore

Die UNESCO will das immaterielle Kulturerbe, also jenen Teil des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit, der sich nicht in Bauwerken, Kunstwerken, Büchern usw. manifestiert, bewahren. Verschläft die UNESCO dabei das digitale Medienzeitalter?

Anubis, der ägyptische Gott der Totenriten, war auch der Patron der Einbalsamierer. An Osiris, dessen Körper über die Welt verstreut war, vollzog er die erste Einbalsamierung. Heute hat die UNESCO mit dem zerstreuten und zerrissenen kulturellen Erbe der Menschheit etwas Ähnliches vor: Jener Teil des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit, der sich nicht in Objekten - Bauwerken, Kunstwerken, Büchern, etc. - manifestiert, sondern eben immateriell und damit "ungreifbar" (intangible) ist, soll bewahrt werden.

Da muss es um weit mehr als reine Folklore gehen, um Riten und mündliche Traditionen, kulturelle Fertigkeiten und Erinnerungen, die nur so lange lebendig bleiben, als sie von Menschen tatsächlich ausgeübt werden.

Die Rolle der Medien

Immaterielles Kulturerbe hat heute - da das authentische Erleben der "Live-Situation" eher der Ausnahmefall geworden ist - stets auch mit Medien zu tun, mit Massenmedien ebenso wie mit den digitalen und vernetzten Medien, ohne die heute kulturelle Produktion und Verbreitung kaum noch denkbar erscheinen.

Die industriellen Massenmedien haben einen nicht geringen Anteil an der Rasanz, mit der immaterielles Kulturerbe verschwindet - vorrangiges Symbol sind die omnipräsenten Satellitenschüsseln in den Favelas der modernen Megalopolen. Die digitalen Medien verbreiten sich mit dem Versprechen, hier ein autonomes, gemeinschaftsorientiertes Gegengewicht bilden zu können - ein Beispiel ist die kollektiv von Freiwilligen erstellte und weiterentwickelte Online-Enzyklopädie Wikipedia.

Achtenswerte Bemühungen

Was also tut die UNESCO auf diesem Gebiet, das von einem dramatischen Verfall der menschlichen kulturellen Erinnerung geprägt ist? Wie es sich für die Vereinten Nationen gehört, deren Mitglieder und Adressaten eben Nationalstaaten sind, wird hier mit einer internationalen Konvention gearbeitet, der "Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes", die im Jahr 2003 von der Vollversammlung beschlossen und bis September 2006 von 62 Staaten ratifiziert wurde.

Österreich hat 2006 sogar eine "Nationalagentur für das immaterielle Kulturerbe in Österreich" gegründet. Nun findet in Wien eine internationale Konferenz unter dem Titel "Grasping the intangible" statt, bei der die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes in Zeiten der Globalisierung diskutiert wird.

Eine Fülle achtenswerter Bemühungen, die allerdings - gemessen an der globalen Medienentwicklung und dem Tempo des von der Globalisierung mit beeinflussten sozialen Wandels - reichlich spät kommen. Bereits im Jahr 1972, als eine Konvention zum Schutze von Weltkultur- und Naturerbe beschlossen wurde, merkten einige UN-Mitgliedsstaaten an, dass auch ein Schutz des immateriellen Kulturerbes wesentlich wäre.

Auch die Ratifizierung durch lediglich 62 von insgesamt 192 Mitgliedsstaaten weist darauf hin, dass weltweit in den Staatskanzleien und den Parlamenten noch viel Bewusstseinsarbeit zu leisten sein wird. Und dann gibt es das strukturelle, oder eher: genetische Problem der Vereinten Nationen und aller völkerrechtlichen Instrumente, dass die Nationalstaaten ihre Träger sind und mit dem Schwinden der Bedeutung der Nationalstaaten auch die Wirksamkeit dieser Instrumente weiter an Kraft verliert.

Wesentliche Akteure im Kräftespiel der kulturellen Globalisierung finden dabei wenig bis keine Berücksichtigung: Mit den eigentlichen "Big Players", den transnationalen Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die in diesem Bereich arbeiten, tun sich die Vereinten Nationen nach wie vor herzlich schwer, wie zuletzt auch beim "Weltgipfel für die Informationsgesellschaft" (WSIS II 2005) in Tunis deutlich wurde.

Dynamik liegt bei Unternehmen und Zivilgesellschaft

Die eigentliche Dynamik liegt heute bei den Unternehmen - man denke nur an Projekte wie "Google Books", das vielerorts für Panik sorgt. Sie haben das Gesetz des Handelns an sich gerissen und treiben alle anderen vor sich her. Und bei den Akteuren der Zivilgesellschaft liegt heute die Chance, gesellschaftlich tragfähige Lösungen zu erarbeiten und Initiativen der Solidarität zu ergreifen, zu denen die Staaten vielfach strukturell nicht mehr fähig oder politisch nicht willens sind.

Es ist leicht und billig, die UN oder die UNESCO ständig für ihre Machtlosigkeit, ja für die von ihr nahezu schon kultivierte Ästhetik des Scheiterns zu prügeln. Solche Prügel aber treffen genau jene Personen und Organisationen, die sich immerhin massiv und ausdauernd darum bemühen, dass das dramatische Schwinden des Kulturerbes der Menschheit aufgehalten wird und die alleine durch die Mühen des Thematisierens unbeliebter Probleme wertvolle Arbeit leisten.

Ein Scheitern internationaler Prozesse ist - bei aller notwendigen Kritik an diesen - leider stets auch ein Scheitern der menschlichen Gemeinschaft insgesamt. Genau aus diesem Grunde verdiente der Ansatz der "Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes" eine fundierte und konstruktive Kritik.

Eine Reihe von Problemen

Solche Kritik müsste schon bei den Kernkonzepten und der Begrifflichkeit der Konvention beginnen. Begriffe wie "KulturERBE" (wie eben in "Intangible Cultural Heritage") oder "Meisterwerke" (wie in der "List of Masterpieces") tragen reichlich traditionalistisches und genieorientiertes Denken des 19. Jahrhunderts in sich, sie klingen beinahe nostalgisch und muten an, als hätten sie weder die kulturellen und theoretischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts rezipiert noch die aktuelle Situation in einer globalisierten Welt erfasst.

Auch der Ansatz der Konservierung selbst ist nicht frei von Problemen. Das zeigt sich schon im Bereich des "materiellen Kulturerbes". In vielen Teilen der Welt setzt sich die mutwillige Zerstörung kultureller Artefakte aus Ignoranz, Habgier oder (religiösem oder nationalistischem) Hass ungebremst fort, während in manchen Regionen - der Konferenzort Wien mit seiner zum Weltkulturerbe zählenden Innenstadt ist hier ein exzellentes Beispiel - das denkmalschützerische Dogma der Konservierung übertrieben und lebendiges Neues unterbunden wird.

Bei dem so genannten "immateriellen Kulturerbe" - kulturelle Praktiken, Kenntnisse und mündliche Traditionen - scheint die Situation auf den ersten Blick aufgrund seiner hohen Fragilität und schweren Fassbarkeit anders zu sein. Doch ist auch hier das Dogma der Konservierung verheerend und geht zudem an der Realität vorbei.

Kulturelle Praktiken sind stets gesellschaftlich bedingt

Immaterielles Kulturerbe lebt von der Weitergabe des sprichwörtlichen Feuers zwischen den Generationen und der schöpferischen Weiterentwicklung durch nachkommende Generationen, nicht von dem sklavischen Nachvollzug von zu Asche gewordenen Riten, deren Bedeutung in Vergessenheit geraten ist.

Bei dem Bemühen um Bewahrung wird oft vergessen, dass kulturelle Praktiken stets gesellschaftlich bedingt sind und mit gesellschaftlichem Wandel - etwa dem Übergang von agrarischen zu industriellen Gesellschaften oder nun von Industriegesellschaften zu Informations- und weiter zu Wissensgesellschaften - auch diese Praktiken ihre Grundlage und ihren Bedeutungshintergrund verlieren. Sie leben nur dann fort, wenn auch sie transformiert und erneuert werden und einen neuen und bedeutungsvollen Platz im Leben der Menschen finden.

Andreas Hirsch ist Experte für die Kreation und Entwicklung kultureller Systeme.

Mehr zum immateriellen Kulturerbe in oe1.ORF.at
Schlüsselfragen der Bewahrung
Gelede

Hör-Tipp
Matrix, Sonntag, 15. Oktober 2006, 22:30 Uhr

Download-Tipp
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Links
Österreichische UNESCO Kommission
Nationalagentur für das immaterielle Kulturerbe in Österreich
Andreas Hirsch
UNESCO - Third Proclamation of Masterpieces of the Oral and Intangible Heritage of Humanity
European eGovernment Services - Proposal der European Digital Library

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