Die Schrullen der alten Dame

Großmama packt aus

Irene Dische löst auf virtuose Weise das Problem der Autobiografie. Sie erzählt sie aus dem gnadenlosen Blickwinkel ihrer überlebensgroßen Großmutter. Herausgekommen ist eine so komische wie furchtlose Familiensaga.

Man spitzt die Ohren, wenn Irene Dische ihre Großmutter auspacken lässt, und - nicht selten - wundert man sich. Nicht nur, weil die Geschichte, die die Ich-Erzählerin Elisabeth Rother zum besten gibt, an sich spannend und unterhaltsam ist, sondern auch, weil sich in den Plauderton, in dem sie dies tut, kaum Spuren von Selbstzweifel mischen.

Neuanfang in Amerika

Elisabeth Rother erzählt die Geschichte ihrer Familie: In den 1920er Jahren heiratet sie in Oberschlesien den jüdischen, zum Katholizismus konvertierten Chirurgen Carl. Als sich in den 30er Jahren die politischen Verhältnisse zuspitzen, organisiert sie dessen Ausreise nach Amerika, wohin sie ihm ein paar Jahre später mit der 18-jährigen Tochter Renate folgt.

Den Neuanfang bewältigt die wieder vereinte Familie mehr oder weniger souverän. Renate studiert Biochemie und heiratet zum Unverständnis der Eltern den Juden Dr. Dische, der sich vollends den hehren Zielen der Wissenschaft verschrieben hat und darüber hinaus für kaum etwas Interesse und Aufmerksamkeit aufzubringen fähig ist. Renate steht ihm in Bezug auf wissenschaftliches Engagement in nichts nach, ihre Kinder Carl und Irene bringt sie quasi zwischen Labor und Kreißsaal zur Welt.

Starke Frauen

Dass beide Kinder aufgrund der nicht irritierbaren beruflichen Ambitionen ihrer Eltern bereits im Kindesalter einige Schrullen an den Tag legen, wird niemanden verwundern. Irene allerdings wird die ungleich härtere Erziehung zuteil: Während Carl bereits mit vier Jahren "Hamlet" liest, entpuppt sie sich als eine unbeugsame Verweigerin von Bildungsanstalten. Als sie mit 17 nach Salzburg aufbricht, um am Mozarteum zu studieren, landet sie nicht, wie ursprünglich vorgesehen, auf einem Cembalohocker, sondern just auf dem Rücksitz eines unbekannten Motorradfahrers, mit dem sie sich für ein Jahr in den Orient absetzt, um ein weiteres Jahr allein und woandershin weiterzureisen.

Damals hatte ich keine Ahnung. Ich ahnte nicht, dass sie, statt nach Hause zu kommen, wieder in die Ferne zog, diesmal Richtung Süden, bis Nordafrika. Sie schlief an Mittelmeerstränden, verlor mit der Zeit alles, was sie besaß, und ließ sich auch ihr Geld stehlen, bis sie auf Erden nichts mehr hatte außer einem weißen Nachthemd, das sie tagsüber trug und im Meer wusch. Sie lebte von Almosen wie ein Mönch, aber nicht aus religiösem Antrieb. Sie lebte, um zu leben. Ihr Dasein bestand darin, dass sie da war. Und sie fürchtete sich vor nichts mehr.

Drauf los geplaudert

Der unbekümmerte Ton der Ich-Erzählerin verdankt sich einer Vitalität, die durch keine kritische Frage getrübt wird. Wirklich, man bekommt den Eindruck, als ob hier eine alte Dame in einem bequemen Lehnstuhl säße und drauf los plauderte. Sie plaudert ihr Leben und das ihrer lieben Familie über alle Tragik, alle Widerwärtigkeit, alles Katastrophale, das in ihm wirksam war, hinweg.

Sie macht dabei gar kein Hehl aus den Eigenschaften, die wir, quasi beim Zuhören, an ihr unerträglich finden könnten: ihre unzähligen Vorurteile etwa, ihr verqueres Klassenbewusstsein, ihren schrulligen Katholizismus und ihre Vorbehalte gegen alles Jüdische. Sie bringt uns damit zum Lachen, vor allem deshalb, weil sich ihre Angehörigen ja doch über die mütterliche bzw. großmütterliche Autorität hinwegsetzen und tun, was sie wollen - was zweifellos klug entschieden ist.

Trotzdem ruft die vermeintliche Erzählung der alten Dame gelegentlich den Wunsch wach, sie ein bisschen zu rütteln und zu fragen, wie es kommt, dass sie so ungebrochen, salopp und witzig von einem Leben sprechen kann, das Schrecken, Angst und Verlust kennt. Aber wahrscheinlich würde sie nur undurchdringbar mit den Augen zwinkern und sagen, schuld an allem sei ihre Enkeltochter Irene Dische, die sich schon immer alle Freiheit im Umgang mit den Familiendingen genommen habe. Und damit hat sich's.

Buch-Tipp
Irene Dische, "Großmama packt aus", Verlag Hoffmann & Campe, ISBN 3455014585