Dreivierteltakt als Lebensgefühl

Alles Walzer!

Einst war der Wiener Walzer ein Modetanz, der alle Konventionen sprengte. Vielerorts mokierte man sich über die Freizügigjkeit, bei der elegante Damen sogar Knöchel zeigten. Doch woher stammt der ungewöhnliche Takt? Vielleicht aus Zeiten der Türkenbelagerung?

Das Kommando eines Tanzmeisters ist der Höhepunkt der Ballsaison in Österreich, mit dem der Opernball in Wien eröffnet wird. Erstaunlich ist, dass ein Großteil aller Österreicher diesen Moment im Jahresablauf mit Begeisterung entgegensehen, was durch das Medium Fernsehen in Vorberichten und durch die Live-Übertragung unterstützt wird. Ein elitäres Ereignis als republikanes Identifikationsmodell!

Ritual und Vergnügung

"Alles Walzer" - das ist der erlösende Moment für die Debütantinnen und Debütanten, die zuvor in exakten Reihen einer Polonaise Einzug in den Ballsaal hielten. Und eben dieser Moment ist gleichsam der immer wiederkehrende Vollzug einer gesellschaftlichen Revolte:

Das strenge Ritual im Gleichschritt des Einmarsches löst sich mit dem Kommando "Alles Walzer" in einen wirbelnden Tumult sich drehender Paare auf. Was zunächst eine für Zuschauer konzipierte Zeremonie war, ist im nächsten Augenblick ein berauschendes Teilhaben aller tanzenden Paare am kreisenden Wogen der Menge, erfasst vom Dreivierteltakt.

Tanzende Revolution

Was da bei der Eröffnung des Wiener Opernballes und bei anderen großen Ballveranstaltungen stattfindet, mag als vertraute oder kuriose Tradition, als Kulturereignis oder als bloßes Zitat aus einer vergangenen Epoche gesehen werden. Tatsächlich ist es aber der Ablauf einer gesellschaftlichen Entwicklung im Zeitraffer. Nach dem exakten Einmarsch der Paare folgt - in beschwingterem Rhythmus - eine Quadrille.

Sie verlangt noch immer eine genaue Formation aller Tänzerinnen und Tänzer, bevor der Walzer die freie Entfaltung einer individuellen Gestik der Tanzpaare erlaubt. In wenigen Minuten wird in geraffter Form eine gesellschaftliche Entwicklung nachvollzogen, nichts weniger als die Emanzipation des Bürgers, der sich von den Regeln eines bevormundenden Staatswesens befreit.

Walzer als Tanz des Bürgertums

Anfänge des Walzers sind in den deutschen und österreichischen Bauertänzen des Mittelalters zu finden. Bezeichnungen wie z. B der wüste Weller deuten auf eine ziemlich wilde Ausgelassenheit. Als Ländler oder Landler wird der Vorgänger des Walzers genannt.

Und plötzlich ist nicht mehr die Choreographie als Reigentanz maßgeblich, sondern das Tanzpaar, das sich mit beiden Armen in Schulterhöhe umfasst, ist nur mehr für sich da, drehend und hüpfend, ohne auf eine Formation der anderen Tänzer achten zu müssen. Der Tanz als Ritual wird abgelöst vom Tanz als Privatvergnügen.

Manifestationen des Individualismus

Der Walzer wurde zu einer der ersten wirklichen Manifestationen des Individualismus, und die kollektive Flucht in den Tanz, den man am Beginn des 19. Jahrhunderts feststellen muss, entspricht dem Anspruch auf Freiheit und Gleichheit, welche die Französische Revolution auf politischer Ebene proklamiert hatte.

Erstmals in der Geschichte des europäischen Gesellschaftstanzes entstanden durch den Walzer Massen von frei tanzenden Individuen, die sich in der ununterbrochenen Drehbewegung einer rauschartigen Tanzekstase hingaben.

Vom Mode-Tanz zur Ikone der Operetten

Mozart komponierte "teutsche Tänze" und Schubert schrieb "Deutsche", und beide kannten das Wort Walzer, wie aus Briefen bekannt ist. Bei Schubert gibt es sogar einmal die Bezeichnung valses sentimentales.

Der Walzer, der durch die Orchester von Josef Lanner und Johann Strauß Vater zum Modetanz gemacht wurde, erfuhr zahlreiche Verwandlungen. Balletteinlagen in französischen Opern mussten, dem Publikumsgeschmack entsprechend, im Walzerrhythmus erklingen. In den opéras bouffes gab es immer Modetänze, doch der Walzer stand im Mittelpunkt.

Schumann, Chopin und sogar Strawinsky komponierten Walzer. Und der Dreivierteltakt inspirierte sie zu den besten Melodien ihrer Oeuvres. Woher aber der eigenartige Rhythmus kam, der erst seit 250 Jahren bekannt ist, bleibt weiterhin verborgen. Eine der Theorien besagt, dass der Walzer ein Relikt aus türkischer Besatzungszeit im 17. Jahrhundert sei. Die Tänze der Derwische werden nach alter Sufi-Tradition im Dreivierteltakt begleitet.