"Skepsis, Feuer und visionärer Kraft"

Literaturnobelpreis an Doris Lessing

Der Literaturnobelpreis 2007 geht an die britische Autorin Doris Lessing. Sie sei eine Epikerin der weiblichen Erfahrung, die mit Skepsis, Feuer und visionärer Kraft eine geteilte Gesellschaft einer genauen Prüfung unterzogen habe, wie es in der Begründung heißt.

Doris Lessung zu Nationalismus und Feminismus

Der Literaturnobelpreis 2007 geht an die britische Autorin Doris Lessing. Sie sei eine Epikerin der weiblichen Erfahrung, die mit Skepsis, Feuer und visionärer Kraft eine geteilte Gesellschaft einer genauen Prüfung unterzogen habe, wie es in der Begründung heißt.

Doris Lessing ist die große alte Dame der britischen Literatur. Ihr großes Thema ist das Verhältnis von Mann und Frau, die Verdienste und Fehler des Feminismus. Das wurde zuletzt auch zuletzt wieder bei ihrem jüngst auf Deutsch erschienen Buch "Die Kluft" deutlich. Mit trockenem Humor, aber auch kämpferisch und lebensweise geht sie dabei an ihr Thema heran.

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Lessing selbst ist von der Auszeichnung beim Einkaufen überrascht worden. Die 87-Jährige habe die Preisverkündung gar nicht verfolgt, sagte die Sprecherin der Literaturagenten Jonathan Clowes Ltd., die Lessing seit Jahrzehnten vertreten.

Die Autorin, deren "Goldenes Notizbuch" (1962) als feministischer Literaturklassiker gilt, wird am 22. Oktober 88 Jahre alt.

Erste Reaktionen

Tendenziell positiv sind die ersten Reaktionen auf die Vergabe des Literatur-Nobelpreises an Doris Lessing in Österreich ausgefallen. "Das war längst überfällig", meinte etwa Elfriede Jelinek, die die Auszeichnung vor drei Jahren selbst entgegennehmen durfte, zur APA. "Ich hatte sogar gedacht, sie hätte ihn schon längst." Lessings "Das Goldene Notizbuch" sei "sicher eines der wichtigsten feministischen Werke der Literatur überhaupt". Sie habe "leider länger nichts mehr von ihr gelesen", so Jelinek. "Ich werde das aber nachholen."

Michael Köhlmeier zeigte sich dagegen "ein bisschen enttäuscht". Lessing habe den Nobelpreis "sicher verdient", sagte er in einer ersten Reaktion zur APA. Es sei jedoch "unverständlich" und "fast eine Trotzhaltung" der Akademie, dass der US-Autor Philip Roth wieder nicht zum Zug gekommen ist. Roth werde seit Jahren übergangen, möglicherweise habe es auch "politische Gründe", dass Schriftsteller aus den USA diesen Preis schon lange nicht mehr bekommen haben.

Auch Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki nannte die Entscheidung der Nobelpreis-Jury für Doris Lessing enttäuschend und führte ebenfalls Philip Roth ins Treffen.

Eine, die sich über Lessings Wahl ganz besonders freuen dürfte, sollte Engdahls Frau Ebba Witt-Brattström sein. "Es ist eine Schande und ein Fleck auf Schwedens Fahne, dass nur zehn Prozent der Nobelpreisträger im 20. Jahrhundert Frauen waren", kritisierte die Feministin und Literaturprofessorin vor kurzem in schwedischen Medien. Doris Lessing ist die elfte Frau, die mit dem Literaturnobelpreis geehrt wird.

Deutscher Verlag völlig überrascht
Die Verleihung hat den Verlag Hoffmann und Campe auf der Frankfurter Buchmesse völlig überrascht. Lessing habe "50 kompromisslose Bücher" geschrieben, sagte Geschäftsführer Günter Berg. Sie habe sich nie von Moden beeinflussen lassen und trotz inhaltlicher Nähe auch nie vom Feminismus in Beschlag nehmen lassen. "Sie hat immer ihr Ding gemacht." Auch persönlich sei die 87-Jährige beeindruckend: "Ihre Dynamik, Wachheit und Klarheit sind bewundernswert."

Als um 13:00 Uhr die Entscheidung in Stockholm fiel, führte Berg in aller Ruhe ein Gespräch am Stand. Nebenan bei Hanser, dem Verlag des Kandidaten Philip Roth, scharten sich dagegen Journalisten um die Verlagsleute. Als eine Reporterin ihm die Nachricht überbrachte, sagte Berg nach einem verblüfften Schweigen nur ein Wort: "Großartig!"

Ein Leben im Schatten der Zeit
Doris Lessing wurde 1919 im Iran als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers geboren, die Familie zog von England 1924 nach Südrhodesien (heute Simbabwe), wo ihr Vater eine wenig ertragreiche Maisfarm bewirtschaftete. Sie sei ein tief unglückliches, rebellisches Kind gewesen, hat Lessing immer wieder betont. Unter ihrem verbitterten, kriegsversehrten Vater litt sie genauso wie unter ihrer ehrgeizigen, strikten Mutter. Wie automatisch habe sie sich deswegen gegen jede Form von Autorität aufgelehnt.

Im Jahr 1939 heiratete Doris Lessing den Kolonialoffizier Frank Charles Wisdom und bekam zwei Kinder, die sie verließ, um 1944 den deutschen jüdischen Emigranten Gottfried Lessing zu heiraten. Die Ehe mit dem KP-Mitglied hielt bis 1949, aus dieser Beziehung stammt der Sohn Peter. Sie hatte Gottfried, der Jahrzehnte später 1979 als DDR-Botschafter in Uganda ermordet wurde, nur geheiratet, um ihn vor der Ausweisung zu bewahren. Durch Gottfried wurde die Autorin Schwägerin des DDR-Ministers Klaus Gysi und Tante des Linksfraktion-Politikers Gregor Gysi.

Auch Doris Lessing engagierte sich damals, "als jedermann Kommunist war", in der Kommunistischen Partei. Von der distanzierte sie sich jedoch schließlich und kritisierte sie als bigott - "entmenschlicht im Dienste der Menschheit". Die Atheistin, die sich mit der Mystik des Islam beschäftigte, formulierte einmal, ihre Generation sei "überschattet von einer Giftwolke der Kriege und des Leids". Heute fühlt Lessing sich "angekommen" in ihrem Haus in London-Hampstead. Sie sei Erzählerin von Geschichten über Menschen und Werte, nicht über Thesen, betont sie immer wieder.

Diskussionen im Vorfeld der Entscheidung

2007 wurden der Italiener Claudio Magris, der Südkoreaner Ko Un und die beiden US-Autoren, Don DeLillo (70) und Philip Roth (74) als Topfavoriten gehandelt. Wie jedes Jahr vor der Bekanntgabe bestritt Akademie-Sekretär Horace Engdahl ganz entschieden, dass die Juroren irgendwelche Proporz-Prinzipien bei ihrer Entscheidung auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen würden.

Erklärungen Engdahls, die eine klischeehafte Bevorzugung westlicher Autorinnen und Autoren nahe legten, sorgten gleichwohl für Irritationen. Auf die Frage, warum kaum jemals jemand aus der Dritten Welt mit dem zehn Millionen Kronen schweren Händedruck des schwedischen Königs geehrt werde, sagte er in einem Zeitungsinterview: "Meine Erklärung lautet, dass die westliche Kultur de facto um Etliches stärker ist als die anderen Kulturen."

Wissenswertes zum Nobelpreis

Der Nobelpreis für Literatur wird seit 1901 - mit Unterbrechungen vor allem in den Weltkriegen - jedes Jahr vergeben. Nach dem testamentarischen Willen des schwedischen Preisstifters Alfred Nobel (1833-1896) erhält derjenige den Preis, "der in der Literatur das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung hervorgebracht hat". Es soll von sehr hohem, literarischem Rang sein und dem Wohle der Menschheit dienen. Im vergangenen Jahr bekam der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk den Nobelpreis. Die österreichische Autorin Elfriede Jelinek wurde im Jahr 2004 ausgezeichnet.

Der von der Schwedischen Akademie vergebene Literaturnobelpreis ist inzwischen mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (1,1 Millionen Euro) dotiert. Er wird jeweils am 10. Dezember, dem Todestag des Preisstifters, in Stockholm überreicht.

In den Jahren 1914, 1918, 1935 sowie von 1940 bis 1943 wurde kein Literaturnobelpreis vergeben. Vier Mal - 1904, 1917, 1966 und 1974 - mussten sich zwei Schriftsteller die Auszeichnung teilen. Zwei Autoren lehnten den Nobelpreis ab: 1958 musste der sowjetische Autor Boris Pasternak den Preis auf Druck seiner Regierung hin zurückweisen. Der Franzose Jean-Paul Sartre weigerte sich 1964, die Auszeichnung anzunehmen.

Mehr dazu in oe1.ORF.at
Porträt Doris Lessing
Reaktionen auf Literaturnobelpreis

Mehr zum Literaturnobelpreis in ORF.at

Hör-Tipps
Kulturjournal, Donnerstag, 11. Oktober 2007, 16:30 Uhr

Tonspuren, Freitag, 12. Oktober, 22:15 Uhr bzw. Sonntag, 14. Oktober, um 21:15 Uhr

Radiogeschichten, Montag, 10. Dezember 2007, 11:40 Uhr

Link
Literaturnobelpreis