Gegen den Verlust der Liebe und des Mitgefühls

Der Psychoanalytiker Arno Gruen

Sein Lebensthema ist die menschliche Seele und ihre so genannten “Abgründe" - das "Fremde in uns"; er schreibt an gegen den Verlust der Liebe und des Mitgefühls und gegen die zunehmende Verrohung der Gesellschaft.

Arno Gruen über seine Arbeit als Therapeut und Autor

Arno Gruen nennt das, was er tut, "hören und verstehen mit dem dritten Ohr". Sein Lebensthema ist die menschliche Seele und ihre so genannten “Abgründe" - der Verlust des Mitgefühls und die zunehmende Verrohung der Gesellschaft:

"Ich richte mich an jene, die noch hören wollen", schreibt er im Vorwort seines Buches "Verratene Liebe - Falsche Götter", in dem er u. a. die Armut, die Ausgrenzung und Demütigung großer Teile der Weltbevölkerung beschreibt und die Macht- und Profitinteressen politischer Führer anprangert.

Der "ganz normale" Wahnsinn

"In diesem Amerika, das ich kannte, das für mich einmal die Rettung war, wo ich mich geborgen fühlte unter den Menschen, da werden jetzt junge Menschen zu Automaten gemacht, da werden Soldaten zu Killern trainiert, dass sie eine Lust haben am Töten", kommentiert er einen Bericht über die Ausbildung der US-Marines in der "New York Review of Books".

Der Horror sei der Gehorsam, Methoden der Erniedrigung, die gebraucht werden, um Menschen gehorsam zu machen, nicht nur in der Armee, auch in der Erziehung der Kinder: "Nach außen heißt das Leistung, Recht und Ordnung, von innen sind diese Menschen voller Wut, voller Hass, voller Mord. Schauen Sie sich Bush und Rumsfeld und Wolfowitz an... jüdisch sein allein schützt nicht vor Wahnsinn..."

Die Wurzeln des Grundübels

Damit die Welt vielleicht besser werden kann, müssten, so glaubt Arno Gruen, die Rahmenbedingungen für die Menschen verbessert werden. Für ihn sind es die fehlende Liebe der Eltern zu ihren Kindern, und auch das mangelnde Gefühl der Eltern für sich selbst, die dazu führen, dass sich Menschen freiwillig und gehorsam scheinbaren Autoritäten unterwerfen:

"Der Gehorsam ist das Problem unserer Gesellschaft. Man muss als Demokrat nicht alles zulassen, dadurch legt man sich selber rein. Es gibt Menschen, die hassen das Menschliche. Wenn man ihnen entgegenkommt, dann hauen sie noch mehr zu. Es geht darum, zu verstehen, immer wieder die Wahrheit über das Menschsein darzustellen. Wenn wir etwa Terrorismus bekämpfen wollen, müssen wir die Möglichkeit schaffen, menschlicher zu leben".

Die Säulen der Menschlichkeit

In dem Buch "Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität" schreibt er im ersten Satz im Vorwort:

Dieses Buch ist in der Hoffnung geschrieben, dass meine Erfahrungen und Beobachtungen anderen Menschen helfen können, sich mit ihren eigenen Wahrheiten besser zu behaupten. Diese Arbeit ist meine Reaktion auf die persönlichen und beruflichen Erlebnisse mit dem Wahnsinn der Realität, der im Namen der Liebe Tod und Zerstörung hervorbringt".

Liebe und Mitgefühl vom ersten Atemzug an sind nach seiner Meinung die Säulen der Menschlichkeit: "Es ist Terror, wenn ein Säugling stundenlang schreit und trotzdem weggesperrt wird, nur damit seine Eltern ihre Ruhe haben. Weil ein solcher Schmerz auf Dauer unerträglich ist, nabelt sich ein Mensch mit der Zeit von all seinen Gefühlen ab".

Wer ist verrückt, wer normal?

Arno Gruen ist auf seine Weise auch ein Prophet: Wie die Propheten, deren Lektüre er so liebt, versucht auch er die Menschen aufzurütteln und ihnen andererseits Hilfe anzubieten: durch sein Zuhören in der Therapie und durch seine Worte, sei es von Mensch zu Mensch oder in seinen Büchern, wenn er etwa "vom Wahnsinn der Normalität" schreibt:

Während jene als verrückt gelten, die den Verlust der menschlichen Werte nicht mehr ertragen, wird denen Normalität bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wurzeln getrennt haben.

Die letzten Sätze in diesem Buch führen zurück auf die Aufgabe jedes Einzelnen:

Wirklich verantwortungsvolles Handeln und echte Menschlichkeit sind nur möglich auf der Basis eines autonomen Selbst, das Innenwelt und Außenwelt integriert. Darin liegt unsere Hoffnung.

Die "Weite" führte in die "Enge"

1923 in Berlin geboren, emigrierte Arno Gruen 1936 mit seinen Eltern in die USA, studierte Psychologie und übernahm verschiedene Professuren. 1979 kehrte er nach Europa zurück und lebt seitdem in Zürich, wo der nun bereits 82-Jährige noch immer als Psychoanalytiker und Therapeut praktiziert.

Zu seinen bekanntesten Werken zählen "Der Verrat am Selbst" und "Der Verlust des Mitgefühls" Im Herbst 2001 wurde er für sein Buch "Der Fremde in uns" mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. In seinen Büchern geht es u. a. auch um die Schwere des Seins in einer Welt, die den Menschen immer weniger Trost bietet und es für die Menschen immer schwieriger wird, eine Heimat zu finden.

Kurt Tucholsky formulierte einmal: "Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte". Bei Arno Gruen war es nicht die Enge der Heimat, die ihn getrieben hat, sondern die existenzielle Notwendigkeit aus Berlin vor den Nazis fliehen zu müssen. Und die Weite der Welt führte ihn in die "Enge" und die Wirrungen der menschlichen Psyche.

Hör-Tipp
Menschenbilder, Sonntag, 13. August 2006, 14:05 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

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Buch-Tipp
Arno Gruen, "Ich will eine Welt ohne Kriege", Verlag Klett-Cotta, ISBN 3608944435

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CoForum - Arno Gruen