Neue Erzählungen von Jagoda Marinic

Russische Bücher

Der neue Prosaband von Jagoda Marinic besteht aus drei Erzählungen, die alle verschiedene Lebenswege beschreiben und auch im Sprachstil stark unterschiedlich sind. Trotzdem haben sie eine verbindende Thematik: Im Mittelpunkt stehen junge Frauen.

Drei weibliche Erzähler berichten von den Irrungen und Wirrungen des eigenen Lebens und berühren dabei immer wieder eine zentrale Frage: Was ist Selbstbestimmung, was Fremdbestimmtheit? Gleich die erste Geschichte in Jagoda Marinics neuen Erzähl-Band mit dem Titel "Der Andere" macht dies deutlich. Eine Frau gibt sich in die Ehe, ihr Mann bietet ihr materielle Sicherheit und seelische Geborgenheit. Doch das Verlangen nach Liebe ist damit nicht gestillt. Liebe will auch das ganz Andere, das Fremde, das, was man als Geheimnis erkunden will. So wird der Geliebte, der Andere eben, zum Spiegel der eigenen Sehnsüchte und Ängste. Und nur durch diesen Blick in den Spiegel erkennt man auch, was "Ehe" bedeuten kann.

Diese Frau will sich ihrer Angst und ihrer Sehnsucht stellen. Sie wird trotz der Verlassenheit ein Mensch sein, wie Marinic schreibt, sie wird lernen, es zu werden. Denn Mensch sein heißt auch, seine eigenen seelischen Schatten anzunehmen. Das klingt pathetisch und die Sprache in dieser Erzählung ist es auch. Marinic erzählt vom Pathos weiblicher Menschwerdung.

Probleme zweier Frauen

Liest man gleich danach die zweite Erzählung, so ist man erstaunt. Eine ganz andere Sprache begegnet einem. Es ist eine Art literarischer Bericht, der sprachlich ganz offen die Probleme zweier junger Frauen beschreibt. Die zwei Hauptfiguren leben gemeinsam in einer Wohnung, Männer kommen nur am Rande vor, sind die abwesenden Dritten. Als allerdings die Ich-Erzählerin zu spüren vermeint, dass sich ihre Freundin Lara in sie verliebt hat, ändert sie ihr Verhalten. Sie geht "Lara", so auch der Titel der Erzählung, aus dem Weg. Die logische Konsequenz aus all dem: Lara verlässt eines Tages die gemeinsame Wohnung.

Genau in diesem Moment dreht Jagoda Marinic die Verhältnisse literarisch effektvoll um. Lara liegt im Krankenhaus und im Sterben. Was sie suchte, war keine lesbische Beziehung, sondern Liebe, Sehnsucht nach dem Anderen, der da ist und die Angst vor dem Tod verscheucht.

Kindheit in Kroatien

Die dritte Erzählung hat den gleich Titel wie der gesamte Prosaband: "Russische Bücher". Russische Bücher, so die kroatische Ich-Erzählerin, habe sie noch in der Schule lesen müssen. Russische Bücher, das ist Weltliteratur von Tolstoi und Dostojewksi, in der es um Liebe, Tod und große Gesten geht. Die Geschichte der Erzählerin ist hingegen klein und ärmlich. Es geht um die Kindheit in einem kroatischen Dorf. Der Vater ist früh verstorben. Die Mutter versucht die Erzählerin und deren Bruder bestmöglich zu erziehen - und dabei wird die Figur des Vaters tot geschwiegen. Aber der abwesende Mann ist in den Köpfen der Kinder stets präsent. So handelt die Erzählung von Fragen, die nicht gestellt und von Antworten, die nicht gegeben werden.

In meinem Dorf werden Menschen früher oder später ausgelöscht, die Häuser stehen als verlorene Steinruinen in der Landschaft (...). Jede Generation ist ein Stück weiter vom Berg ins Tal hineingezogen und hat sich dort neue Häuser gebaut, bessere, die alten unbeschildert zurückgelassen; es war leicht, solche Häuser zurückzulassen, solche Vergangenheit.

Seelenlandschaften

Dieses Bild von Jagoda Marinic gilt für alle drei Erzählungen: Menschen sind wie Häuser. Manche erkennt man an dem Mobiliar, in dem sie leben. Andere wieder sind wie Steinruinen, ausgelöschte Existenzen und dennoch sind sie da, als anwesende Abwesenheit. Sie sind wie unsere Sehnsüchte und Ängste, von denen man nichts wissen will, die man vergessen will und die dennoch da sind. Jagoda Marinic beschreibt feinfühlig und klug Seelenlandschaften. Auf solch literarische Erkundungen dürfen sich Leser getrost einlassen.

Buch-Tipp
Jagoda Marinic, "Russische Bücher. Erzählungen", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518416960