Der deutsche Historiker über Mordgeschäfte

Götz Aly im Gespräch

"Der Hitler hat alle umbracht" - so einfach sei die Sache nicht, sagt der deutsche Historiker Götz Aly. Alle haben vom nationalen Sozialismus profitiert. Unsere Gesellschaft profitiert - mit zahlreichen Bestimmungen und Gesetzen - bis heute davon.

Götz Aly über die "Verstaatlichung von jüdischem Vermögen"

Götz Aly: Es übergreift alle sozialen Schichten, dieses Mordgeschäft. Es ist problematisch, das Morden, die Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen einfach auf ganz wenige zu isolieren. Man kommt zu dem pessimistischen Schluss: Wenn welche nicht dabei waren, dann war das möglicherweise Zufall.

Michael Kerbler: Erich Kuby hat in den 1980er Jahren ein Buch geschrieben, wo er zu dem Schluss kommt, ungefähr eine Million Deutsche - und zwar, wie Sie sagen - aus allen Schichten der Bevölkerung war unmittelbar an der Judenvernichtung beteiligt. Die Angehörigen nicht mitgerechnet, die es offensichtlich gewusst haben müssen.
Diese Breite der Beteiligung und die Breite des Wissens ist eine Frage, die man sich klar machen muss. Wobei es nicht heißen muss, dass alle es gewusst haben. Weil man nur Dinge weiß, für die man sich auch interessiert. Der Mensch ist so angelegt, dass er Dinge, die er lieber verdrängt, eben dann auch nicht wissen will und sie daher auch nicht weiß.

Es geht um das breite materielle Profitieren. Ich beschreibe das in meinem Buch als "aktiven und passiven Bestechungsprozess", als Massenbestechung, gefasst unter dem Begriff "Gefälligkeitsdiktatur". Dieser parallelisiert ganz offensichtlich zum heute üblichen Begriff der "Gefälligkeitsdemokratie", also dass vor Wahlkämpfen noch mal schöne Gesetze erlassen werden für die Bevölkerung, die die gerade regierende Partei gewissermaßen in Vorsprung bringen soll, und was die spätere Bewältigung der damit verbundenen Lasten nach sich zieht.

Um welche Dinge geht's denn da, wenn Sie von Gefälligkeitsdiktatur sprechen?
Es geht eigentlich zunächst einmal um ganz banale Dinge, wo man auch keine Geheimakten dazu lesen muss. Hitler kam bekanntlich am Ende der Weltwirtschaftskrise an die Macht. Wir können sie uns heute nicht mehr vorstellen, die Not der einfachen Leute, das knappe Leben ganz an der Existenzgrenze, die Verschuldung der Kleinbauern. Welchen sozialen Sprengstoff das alles geborgen hat! Und nun sagen wir: Dann sind die Kommunisten verhaftet worden, und das Sterilisierungsgesetz, und die Asozialen und das Berufsbeamtengesetz, das waren die ersten Gesetze, und Terror, Terror, Terror. Ja, das stimmt.

Aber was eben auch stimmt, ist zum Beispiel, dass man die Leute vor dem Besuch des Gerichtsvollziehers geschützt hat: Pfändungsschutz. Dass die Schuldner besser gestellt werden als die Gläubiger, das ist eine Linie, die sich durch den ganzen Nationalsozialismus hindurch zieht, bis zum Kriegsende. Schutz vor Exmietierung aus der gemieteten Wohnung wegen Mietschulden. Das sind fundamentale Dinge in dieser Zeit, die die meisten von uns heute nicht mehr ermessen können in ihrer Bedeutung.

Aber die NSDAP-Führer, das waren eben soziale Aufsteiger. Das waren vielfach Menschen, die aus der Unterschicht sich hoch gearbeitet hatten - bei Hitler ganz klar über die Mobilisierung im 1. Weltkrieg. Krieg bedeutet immer auch die Chance zu sozialer Aufwärtsmobilisierung. Und die wussten, was drückende Schulden bedeuten; die wussten, wie das ist, wenn man beim Händler im Dorf anschreiben lassen muss. Die hatten ein Gefühl für soziale Fragen, und mit diesem Gefühl haben sie diese ganzen zwölf Jahre hindurch immer wieder gespielt. Und regiert. Mit instinktiver Sicherheit wird immer die soziale Karte gezogen, wenn Krisen auftreten.

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung auch nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Götz Aly, "Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus", S. Fischer Verlag, ISBN 3100004205

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Veranstaltungs-Tipp
"Zeitgenossen im Gespräch" mit dem Kriminologen Thomas Müller, Sonntag, 24. April 2005, 11:00 Uhr, RadioKulturhaus

Mehr dazu in radiokulturhaus.ORF.at

CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop

Link
Wikipedia - Götz Aly