Das verflixte Deutsch-Referat

Ein Türke in der Klosterschule

Seinerzeit, zweite Klasse Gymnasium, Deutschunterricht. Ein Referat zum Thema "Mein Lieblingsbuch". Meine Lehrerin, eine liebenswerte kleine vornehme alte Nonne, war perplex. Wie heißt der Autor? Yasar Kemal??? Wer soll das sein? Und woher hast Du dieses Buch?

Unsere Deutsch-Professorin, eine freundliche kleine alte Nonne, wollte uns zu Literaturfreaks erziehen. Jeden Monat war ein Referat zu einem Buch fällig, und in einem der ersten sollte "Mein Lieblingsbuch" vorgestellt werden. Aus den gewählten Büchern konnte ich damals schon die verschiedensten Intentionen meiner Mitschülerinnen herauslesen: Die Ehrgeizigen wählten besonders dicke Bücher, die Bequemen suchten sich was Einfaches heraus, die Naivlinge besprachen "Heidi" und "Onkel Toms Hütte", die Schleimer wählten etwas Russisches - eine erblödete sich gar, Tolstojs "Krieg und Frieden" vorzustellen. Sehr viel später hat sie mir gestanden, dass ihre Mama das Referat geschrieben hat! Hass! Genau die ließen ihre Mathe-Aufgaben von Papa "verbessern", und um ihre Handarbeitsaufgaben kümmerten sich sämtliche weibliche Verwandte... Tripel-Hass!!!

Die Bücher auf dem dritten Regal waren tabu

Ich hatte damals durch eine längere Krankheit, die ich auf dem Mama am nächsten stehenden Bett auskurieren durfte, Zugang zu ihrer kleinen, feinen Bibliothek. Ich schwelgte in Hemingway, Père et Fils Dumas, André Gide, E. T. A. Hoffmann etc. Alles, alles durfte ich lesen, nur die Bücher auf dem dritten Regal waren bei Strafe der Bibliotheksverbannung strikt verboten (Ein einziges Mal wagte ich, eines dieser Begehrenswertesten in die Hand zu nehmen: Flaubert, "Madame Bovary". Was soll ich sagen, sie hatte es mit einem kleinen Glöckchen gesichert gehabt! Damals ist mir vor allem eines klar geworden: Geheimdienst ist mein Ding nicht!).

Die Wahl des Referat-Buches fiel mir besonders schwer. "Kater Murr"? "Aus dem Leben eines Taugenichts"? "Don Quixote"? "Wem die Stunde schlägt"? Ich hatte mich dann doch für den "Glöckner von Notre Dame" entschieden und eine leidenschaftlichen Anklage der Verschlagenheit und Heuchelei verfasst, was meine Mutter als "gar nicht klug, bedenke doch, das ist ein Mann der Kirche!" kommentierte, als mir - von unserem Kater geschubst - ein Buch aus der obersten Reihe in die Hand fiel. "Rot sind Allahs Berge" hieß es. Vom Titelblatt blickte mich ein in der Art von Georges Rouault gemalter Mann mit Fes an. Seine Technik, die mich sehr faszinierte, studierten wir gerade im Zeichenunterricht. Neugierdehalber und absichtslos blätterte ich in den fast 400 Seiten. Fremde Worte stachen mir ins Auge: Tschukurowa, Merhaba, Tscharyk. Ah, dachte ich, das erinnert mich an Karl May.

Den liebte ich! Von dem kannte ich fast alles. Obwohl er offiziell, das heißt für die Schule, nicht existierte. Einmal haben sie mich erwischt, wie ich, während eine von mir nicht besonders geschätzte Mitschülerin mündlich geprüft wurde, "Der Schut" gelesen habe. Das war ein Aufstand! Bei der Mater Direktorin musste ich mir mein Buch abholen! Und meine Eltern wurden in die Schule zitiert.

Richtig große Literatur
Jaschar Kemal schrieb nicht wie Karl May. Die beiden waren absolut nicht miteinander zu vergleichen. Das war richtig große Literatur. In mir erwachte eine fremde Welt, ich konnte plötzlich verstehen, bemerkte, dass meine Art zu denken nicht die einzige Weise war, die Welt zu sehen. Bemerkte, dass am Bahnhof verlorene, fremd aussehende Menschen herumstanden, die nie in einen Zug einstiegen - St. Pölten hatte damals schon einen relativ großen Anteil an Gastarbeitern.

Also verwarf ich mein schon fertiges Victor-Hugo-Referat und ersetzte es durch eine Besprechung des Türken. Was mir nicht die erwartete Spitzennote, dafür aber den Kommentar einbrachte: "Wer soll das denn sein, dieser Jaschar Kemal? Warum liest du nicht etwas, das man kennt, Dumas oder E. T. A. Hoffmann oder Goethe?" Ab dem Zeitpunkt war sie in meiner Achtung sehr weit gesunken. Erst viel später verstand ich, dass ich meine Lehrerin in eine unmögliche Situation gebracht hatte. Tut mir leid, Mater G.!

Unter einem anderen Titel, als "Memed mein Falke", fiel mir dieses Buch in einer modernen Ausgabe mit nicht eingedeutscht geschriebenen türkischen Worten Jahr(zehnt)e später in die Hände. Es war immer noch so faszinierend wie damals. "Madame Bovary" habe ich übrigens bis heute nicht gelesen.

Buch-Tipp
Yasar Kemal, "Memed mein Falke", Unionsverlag, ISBN 39293200028

Veranstaltungs-Tipp
Von 7. bis 28. März zeigt die Kunsthalle Wien die Installation "KanakAttack. Die dritte Türkenbelagerung?"

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Links
Perlentaucher - Biografie Yasar Kemal
Kunsthalle Wien