Revolutionärer Optimismus

Multitude

Michael Hardt und Toni Negri haben ihr Buch im Wesentlichen zwischen dem 11. September 2001 und dem Irak-Krieg 2003 verfasst. Das Thema Krieg steht zwar im Mittelpunkt, es geht ihnen aber vor allem um eine genaue Beschreibung dessen, was man "Globalisierung" nennt.

Im vorliegenden Buch wenden wir uns der "Multitude", der Menge zu, der lebendigen Alternative, die im Innern des Empire entsteht. (...) Auch die Multitude kann als ein Netzwerk aufgefasst werden: als ein offenes und breit angelegtes Netzwerk, das es zulässt, jegliche Differenz frei und gleich auszudrücken, ein Netzwerk, das die Mittel der Begegnung bereitstellt, um gemeinsam arbeiten und leben zu können.

Begriffsbestimmung

Zunächst grenzen Hardt und Negri den Begriff der Multitude von anderen, verwandt klingenden Begriffen ab: Volk und Arbeiterklasse zum Beispiel - zwei Begriffe, die sehr homogene, ja monolithische Einheiten beschreiben und daher für Hardt und Negri den neuen globalen Realitäten in Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr entsprechen. In einem zweiten Schritt grenzen Hardt und Negri die "Multitude" auch von den Begriffen Masse, Menschenmenge und Mob ab.

Ein Menschenhaufen, der Mob oder der Pöbel können gesellschaftliche Wirkungen entfalten - bisweilen fürchterliche und zerstörerische Wirkungen -, doch sind sie nicht in der Lage, aus eigenem Antrieb zu handeln. Das ist der Grund, warum sie für Manipulationen so anfällig sind. Die Multitude hingegen ist ein aktives gesellschaftliches Subjekt, das auf der Grundlage dessen handelt, was den Singularitäten gemeinsam ist und von allen geteilt wird.

Verwirklichte marxistische Vision

Hardt und Negri sehen - wie Karl Marx - den Tod der alten Arbeiterklasse und das Ende des fordistischen Zeitalters, doch sie sehen auch, dass sich gerade in der post-industriellen Gesellschaft und in den immateriellen Arbeitern und Produzenten der Wissensgesellschaft die marxistische Vision einer kommunistischen Gesellschaft verwirklichen könnte bzw. bereits konkret verwirklicht.

Als Beispiel führen Hardt und Negri hier Musiktauschbörsen im Internet an, in denen kommunistisch agierende Kollektive die Gesetze des Privateigentums und der kapitalistischen Konsumlogik außer Kraft setzen. Ein weiteres Beispiel ist die so genannte Open-Source-Bewegung, die gemeinschaftliche Arbeit an nicht urheberrechtlich geschützten Software-Programmen leistet. Hardt und Negri sehen somit die Voraussetzungen gegeben, das unvollendet gebliebene "Projekt der Moderne" durch ein neues Projekt zu ersetzen, das wie sie es nennen: "Projekt der Multitude".

Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Widerstand

Die Autoren weisen auch auf eine historische Gesetzmäßigkeit hin, nämlich eine Wechselwirkung zwischen den Produktionsbedingungen in der Wirtschaft und den Organisationsformen des Widerstands dagegen: Die Industrialisierung etwa war straff organisiert und durch und durch zentralistisch und so hätte sich auch die Arbeiterschaft entsprechend straff und zentralistisch organisiert. Die deregulierten und flexiblen Arbeits- und Produktionsbedingungen in der heutigen Wirtschaft wiederum würden ebenfalls entsprechende Protestformen hervorbringen und zwar solche, die sich durch Organisation in Netzwerken, räumliche Mobilität und zeitliche Flexibilität auszeichnen und keiner zentralen Lenkung mehr bedürfen; eine implizite Kritik an den traditionellen Organisationsformen der Linken.

Trotz einer klaren Absage an Gewalt lassen Hardt und Negri in ihrem Buch keinen Zweifel daran, dass auch ihr Ziel immer noch die Revolution ist. Und das heißt, im Rückgriff auf ursprüngliche kommunistische, sozialistische und anarchistische Zielsetzungen: die Abschaffung des Staates.

Viele kleine Erzählungen

In noch größerem Umfang als in "Empire" finden sich in "Multitude" auch kurze Geschichten, die zwischen die streckenweise doch sehr theoriegeladenen Abhandlungen eingewoben wurden. Sie erzählen u.a. vom Simplicius Simplicissimus und vom Golem, von Dostojewskis Dämonen und der Figur des Moosbrugger bei Robert Musil. Diese literarischen und historischen Anekdoten illustrieren philosophische Aspekte des Buches und sind als Analogien zu konkreten Problemen der Gegenwart zu verstehen.

Zugleich wird damit aber auch die Kernidee des Buches illustriert: eine große Erzählung, die aus vielen kleinen Erzählungen besteht. Und nicht zuletzt machen diese Erzählungen das Buch auch für Leser interessant, die die Theorien von Hardt und Negri vielleicht für etwas zu konstruiert halten und die ihren revolutionären Optimismus gerade angesichts des aktuellen Weltgeschehens nicht so recht teilen wollen.

Buch-Tipps
Michael Hardt & Antonio Negri, "Multitude - Krieg und Demokratie im Empire", Campus Verlag, ISBN: 3593374102

Michael Hardt & Antonio Negri, "Empire", Campus Verlag, ISBN: 3593372304