Erinnerungen an die 70er Jahre

Kindheitsroman

"Man kann durchaus auch interessante Bücher über langweilige Zeiten schreiben," sagt Gerhard Henschel über sein neues Buch. Und richtig, aus der Sicht seines Protagonisten waren die 70er Jahre alles andere als langweilig. Und das Buch ist es auch nicht.

Erinnern Sie sich noch an "Dalli Dalli", Hans Rosenthal und das berühmte "Sie sind der Meinung, das war Spitze?" Es gab eine Zeit, da konnten wir nicht unter 32 Programmen wählen, da gab es Samstag Abend "Dalli, Dalli", "Am laufenden Band", oder "Einer wird gewinnen". Für all jene, die in dieser Zeit ihre Kindheit verbracht haben, sind Fernsehsendungen eines der prägendsten Erinnerungen.

Der 42-jährige Gerhard Henschel hat nun ein Buch geschrieben, das die Zeit der 70er vor unseren Augen wiederauferstehen lässt und zwar so deutlich, dass es beinahe weh tut.

Wie ein Kleinkind erzählt

"Kindheitsroman" hat Henschel sein Buch schlicht und ergreifend genannt, und das ist eine glückliche Wahl, denn was er geschrieben hat, ist ein Kindheitsroman in seiner ureigensten Form. Gerhard Henschel betreibt keine nostalgische Rückschau, er reflektiert weder die 70er Jahre, noch kommentiert er das Kind, das er beschreibt.

"Ich hatte mich bemüht anfangs so zu erzählen, wie es ein Kleinkind täte, das aus seinem Leben erzählt und dann mit der Zeit wird der Erzähler älter und ist nachher kein Kleinkind mehr, sondern ein Junge, ein Raufbold und entwickelt sich dann eben wie es so geht irgendwann zum frühpubertierenden Jugendlichen", erzählt Henschel.

Die Sprache der 70er

Je länger man den Anekdoten folgt, desto klarer wird, Henschel hat hier ein Buch vorgelegt, das nicht nur akribisch Fernsehprogramme, Hitparaden und Werbesprüche aus den 70er wiedergibt, sondern in einer nahezu unglaublichen Kunstfertigkeit, Tonfall, Sprache und Stimmung dieses Jahrzehnt getroffen hat.

Seine Helden sind weder cool, noch finden sie etwas geil, sie erfreuen sich an Carrera-Bahnen und Elektrokontakt und alles ist bei ihnen genau so, wie wir uns erinnern, dass es auch bei uns war.

Anekdoten und Episoden

Gerhard Henschel, vielen bekannt als Satiriker der Zeitschrift Titanic, dokumentierte in seinem letztem Roman "Die Liebenden" die Geschichte seiner Eltern und stützt sich dabei ausschließlich auf Briefe, Sterbeurkunden, Operationsberichte, Einladungskarten zu Festen - einfach alles, was an Dokumenten über die Familie zu finden war.

Wie schon in diesem Roman konstruiert Henschel auch im "Kindheitsroman" keine Story, sondern verlässt sich ganz auf die Erzählkraft seiner Figuren und ihren Lebensumständen. Aus einer Ansammlung von Anekdoten und kleinen Episoden entwickelt Henschel eine Geschichte, die ohne Übertreibung als Chronik einer ganzen Generation bezeichnet werden kann.

Die große, weite Welt

Kindheitsromane gibt es in der Literatur wahrlich genug, reflektierende Erinnerungen über schöne oder schreckliche Zeiten. Ausgangspunkt ist immer ein Erwachsener, der zurückblickt, der versucht den Bogen bis in die Gegenwart zu spannen und sich als Summe seiner Erfahrungen begreift.

Gerhard Henschels Roman hat nichts Verklärendes oder Romantisches an sich. Man hat das Gefühl, der Autor lebt ganz im Hier und Jetzt, nur sind sein Hier und Jetzt eben die 70er. Und so ist der "Kindheitsroman" ein Buch, das man mehr fühlt als liest. Und auch die philosophischen Gedanken über die große weite Welt teilt man gerne mit dem Helden. Schließlich war es doch erst gestern, dass wir "Bonanza" im Vorabendprogramm gesehen haben.

Buch-Tipp
Gerhard Henschel, "Kindheitsroman", Verlag Hoffmann & Campe 2004, ISBN: 3455031714