Doris C. Rusch über Geisterstädte im Netz

Magische Stunden im Cyberspace

Die Zeit vergeht und noch schneller lässt man Online-Games hinter sich. Automatisch wechselt man zur nächsten Version und hinterlässt eine verwaiste Spielewelt. Wie ist es, wenn man in vergessene Level zurück und durch leere Animationen geht?

“It’s too early for the circus, and too late for the bars”. So besingt Tom Waits die magische Stunde in der die meisten Nachteulen ihren Weg nach Hause gefunden haben und sich die Frühaufsteher noch einmal im Bett umdrehen. In dieser magischen Stunde passieren sie, die unvergesslichen Begegnungen mit völlig Fremden, die wie Treibholz durch die verlassenen Gassen schlendern und bei Tageslicht leider auch genauso aussehen. Es ist die Zeit der tiefen Gedanken, in der man sich genial und zur Schriftstellerei berufen fühlt, nur um bei Morgengrauen festzustellen, dass die eben noch so substanziell gewähnten Aphorismen die Nachhaltigkeit eines ungedeckten Schecks besitzen. Aber egal. Wer in dieser Zeit nicht mit sich und der Welt in wunderbar melancholischem und sich selbst überschätzendem Einklang ist, dem kann nicht geholfen werden.

Was macht eigentlich den Zauber der magischen Stunde aus? Die Stille? Das fahle Laternenlicht? Die Menschenleere? Das, aber vor allem die Tatsache, dass sie fragil, vergänglich ist, eine Aberratio des sonst so hektischen Großstadtlebens. Sie ist definiert durch die vorübergehende Abwesenheit des sonst Allgegenwärtigen. Nicht zu vergleichen also mit der Einsamkeit, die einem ein Berggipfel beschert, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.

Während meiner Studienjahre war die wiederholte Huldigung der magischen Stunde wichtiger Bestandteil meiner Psychohygiene. Mittlerweile ist diese Form des seelischen “Resets” ärgerlich inkompatibel geworden mit einem einigermaßen geregelten Leben.

Aber vor kurzem stieß ich auf ein Phänomen, das beinahe ebenbürtigen Ersatz darstellt: Entvölkerte Online-Welten. Massive-Multiplayer-Online-Games, die Ballungsräume im Cyberspace, besitzen viele jener Eigenschaften, deren Abwesenheit die Qualität der magischen Stunde herbeizaubert. Spiele wie "World of Warcraft" oder "Everquest 2" sind je nach eigener Laune manchmal geradezu widerlich sozial.

Will ich wirklich nach einem Tag voller zwischenmenschlicher Aktivität meine Freizeit der Gunst und Gnade anderer SpielerInnen aussetzen? Ist die Real-Life-Schlacht im Supermarkt nicht schon nervtötend genug? Müssen mir auch im virtuellen Raum klobige Rüstungsträger und Pferdehintern den Blick auf meinen Provisioner verstellen? Ganz zu schweigen von dem lästigen Troll, der offenbar dieselbe Quest macht wie ich und dafür in meinem Revier wildert und mir alle für die Erfüllung der Quest nötigen Monster vor der Nase umbringt!?

Die bedingungslose Wertung aller Sozialität als positiv und wünschenswert war mir ja schon immer suspekt. Warum ich trotzdem nicht einfach ein Single-Player-Spiel spiele? Weil Single-Player-Spiele die Berggipfel unter den Games sind. Weil die dort herrschende Abwesenheit anderer Avatare nichts wert ist. Es fehlt die Möglichkeit der Belästigung, um aus der Ruhe einen Triumph zu machen. Und natürlich auch das Gefühl der potentiellen Weite, des Umgebenseins von einer riesigen Welt.

Online-Spiele werden mit der Zeit alt. Neue Spiele kommen auf den Markt und die Neuzugänge zu den alten Spielen nehmen ab. Das führt zu entvölkerten Newbie-Zonen. Es ist schon etwas ganz eigenes, als Level-60-Character in jene Gegenden zurückzureisen, wo einst alles begann. Man ist unverwundbar, unantastbar und kommt sich super erfahren vor. Aber es ist noch mal was anderes, ein wirklich altes Online-Spiel zu spielen, das vom Medienhype völlig vergessen nur noch als Legende existiert. Wie etwa "Everquest 1", dem Vorläufer zu "Everquest 2". In dieses Spiel hineinzuschnuppern ist wie Urlaub zu machen in einer Geisterstadt. Aber Vorsicht, man kann auch so lange auf einer Party bleiben, bis es draußen wieder hell ist. Und dann bleibt nur noch der Weg in die Bar, würde Tom Waits wohl sagen.

Doris C. Rusch ist Post Doc Fellow am Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung der TU Wien mit dem Spezialgebiet "Games".

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