Was Superorganismen so alles können

Die Ameisen und die Kultur

Ameisen sind bekanntlich Staaten bildend. Wer kann also wissen, ob die Tierchen in ihrem "Superorganismus" nicht auf eine für uns unerkennbare Weise musizieren oder Werke der Malerei oder Analoges in einer ihnen eigenen Art produzieren? - Eben.

Letztens hatte ich als vazierender Kulturreporter die fachlich etwas abseitige Gelegenheit, mich mit Ameisen befassen. Ja, mit Ameisen, jenen Tierchen, die für unsere Wälder der reine Segen sein sollen, die man in der Wohnung aber lieber nicht antrifft. Zumal sie dort gern in wahren Heerscharen auftreten, um beispielsweise das der Katze zugedachte Futter aus deren Schüssel abzutransportieren - in winzigen Einzelportiönchen zwar, die sich aber summieren; faszinierend, zu beobachten, wie da eine ganze Dose der proteinreichen Mixtur in zwei, drei Stunden ratzputz verschwinden kann. Und zwar auf einer so genannten Ameisenstraße, auf der das Insektenheer, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, fast in Reih und Glied dahin marschiert.

Richtig ist zwar, dass Ameisen in der traditionellen literarischen, der bildenden und auch der Tonkunst meines Wissens kaum vorkommen. Selbst in Hollywood, wo man doch alles und jedes verfilmt, was einem kreativ notleidenden Studio dann doch einfallen kann, hat man die Ameise noch nicht so richtig entdeckt: Die Zahl der Filme, in denen Ameisen eine Rolle spielen, hält sich in Grenzen, wiewohl es sie gibt.

Was ich bei meinen Recherchen in der Insektenwelt aber erstaunt zur Kenntnis nahm: Ameisen, so versichern Experten, haben Intelligenz. Nicht das einzelne Tier natürlich, das ist dumm wie das sprichwörtliche Bohnenstroh. Es krabbelt, so wurde mir gesagt, völlig plan- und ziellos durch die Gegend. In seinem winzigen Gehirn ist keinerlei Raum für so etwas wie einen Plan.

Aber die Ameisen insgesamt, die Masse, der Ameisenstaat: Im Zusammenspiel der Zehn- und Hunderttausenden und ihrer Kommunikation passiert Seltsames. Wobei "Kommunikation" schon wieder eine Übertreibung ist. "Kommunikation" unter Ameisen ist nicht etwas, was wir Menschen unter Verständigung oder der Weitergabe von Information verstehen würden. Tatsächlich handelt es sich um bloße simple Signalübermittlung mittels chemischer Substanzen, "Pheromonen", falls Sie davon schon etwas gehört haben.

Doch im Zusammenspiel dieser Funktionen und der Masse der Arbeiterinnen im Ameisenstaat entsteht so etwas wie Intelligenz. Beispiel: Was eine Ameise nie und nimmer hat und haben kann, der Ameisenstaat schient es zu besitzen – eine präzise Landkarte seiner Umgebung und die Fähigkeit, sich darin zu orientieren. Also etwa einen Plan Ihrer Wohnung, sowie des Ortes, wo Sie das Katzenfutter hingestellt haben. Daher auch die wohl ausgetretene Ameisenstraße, auf der die Insekten es davon tragen. Es nützt gar nichts, die Schüssel woanders hin zu stellen, die Ameisen finden sie und richten eine neue Straße ein. Und wenn Sie versuchen, die Ameisenstraße zu unterbrechen, einige Spritzer eines handelsüblichen Insektenvertilgungsmittels wären eine beliebte Methode, nützt das auch nichts: Die Ameisen finden flott den besten und kürzesten Umweg um das Hindernis.

Experten nennen das einen "Superorganismus". Der Ameisenstaat, als "Superorganismus" betrachtet, vollbringt eine Intelligenzleistung, die die eines Schimpansen übertrifft, ließ ich mir sagen.

Nun wissen wir wieder von Jane Goodall, der weltbekannten Schimpansenforscherin, dass Schimpansen in der Tat so etwas wie "Kultur" haben. Es hat zwar noch kein Schimpanse je einen Roman geschrieben oder eine Oper komponiert, aber in so Dingen wie Esskultur, Trinkkultur oder Streitkultur sind Schimpansen nicht zu unterschätzen, behauptet Goodall in ihren Büchern. Sie pflegen sogar je verschiedene Kulturen, in denen sie sich von Horde zu Horde unterscheiden, und die sie per Erziehung ihren Nachkommen vermitteln.

Und Ameisen sind diesbezüglich, wie gesagt, höher einzuschätzen als Schimpansen. Wer kann also wissen, ob die Tierchen in ihrem "Superorganismus" nicht auf eine für uns unerkennbare Weise musizieren oder Werke der Malerei oder Analoges in einer ihnen eigenen Art produzieren? - Eben.

Man kann sich, so gesehen, durchaus vorstellen: Der erste Geiger der Wiener Philharmoniker, substituiert durch einen fiedelnden Ameisenhaufen. Ein anderer Ameisenhaufen in der Rolle des Hamlet am Burgtheater: "Sein oder nicht sein...", fragt sich die wurlende Masse in tiefem künstlerischen Ernst.

Sogar noch leichter vorzustellen wäre ein Pinsel schwingender Ameisenstaat in einer Galerie für moderne Kunst. Dort sind sich manche Besucher ja oft wirklich nicht sicher, ob da nicht ein Orang-Utan (nach kognitionswissenschaftlicher Expertenauskunft unter dem Schimpansen einzuschätzen) am Werke war. Übrigens ist genau das schon vorgekommen: Die 250 Bilder der malenden Orang-Utan-Dame Nonja aus dem Wiener Tiergarten Schönbrunn (sie hat vor einigen Jahren die Malerei aufgegeben) werden heute um fünfstellige Euro-Beträge gehandelt. Pro Stück, wohlgemerkt.

Und über Nonjas Duisburger Kollegen Congo schrieb ein hauptberuflicher Kunstkritiker, den man um eine Expertise gebeten hatte - gemeinerweise ohne ihm zu sagen, dass die vorgelegten Werke vom malenden Orang Utan stammen -: "Die Bilder zeichnen sich durch einen frischen, energischen Stil aus, sowie das Bemühen um akzentuierte Symmetrie und auffällige Farbkontraste."

Also: Warum nicht auch Ameisen!

Naja, und so weiter... Recht verschrobene Ideen, auf die man an einem verschlafenen Sommermorgen kommen kann, wenn sonst nichts Dringendes ansteht.

Hör-Tipp
Radiokolleg: Die erstaunliche Welt der Ameisenstaaten, Montag, 30. Juli, bis Donnerstag, 2. August 2007, 9:05 Uhr

Links
Heinz Rosenkranz - Bilder von Nonja
Jane Goodall Institut Österreich