Heimatverbundener Kosmopolit

Zum 50. Todestag von Jean Sibelius

Am 20. September 1957 verstarb der finnische Komponist Jean Sibelius in seinem Haus "Ainola" nahe Helsinki. Tomi Mäkeläs Sibelius-Buch, die erste große deutschsprachige Buchstudie zu Sibelius seit 35 Jahren, ist aus diesem Anlass erschienen.

Seine Hauptwerke, so Tomi Mäkelä in seinem im Frühjahr erschienenen fulminanten Buch über "Johan Christian Julius" Sibelius, der sich ab seinem 21. Jahr nach dem Vorbild eines kosmopolitischen Onkels Jean nannte, zeichnet "eine originäre Synthese von Kosmopolitismus und Heimatverbundenheit" aus. Mit seiner finnischsprachigen Frau Aino Järnefelt korrespondierte Janne, wie ihn Familie und Freunde riefen, auf Schwedisch, seiner Erstsprache, die er - wie Deutsch - Zeit seines Lebens besser als Finnisch sprach (was ein 2003 entstandener finnischer Film ins Gegenteil verkehrte).

Gerade weil er regional, sprachlich, familiär (der Vater verstarb früh) und sozial (aus schwedischsprachigem, bildungsbürgerlichem Kleinstadtmilieu stammend) sich entfremdet fühlte, blieb er sowohl für Einflüsse offen als auch eigenständig. Das schwedischsprachige Großbürgertum hasste er wie den republikanischen Alltag, "dieses finnische Volk liebte" er wie "die Arbeiter" (worunter er, wie Tolstoi, den "bildungswilligen einfachen Menschen" verstand), die liberale jungfennomanische Unabhängigkeitsbewegung unterstütze er. De jure war Sibelius Untertan des Zaren bis in sein 53. Lebensjahr, dem Jahr der finnischen Unabhängigkeit, 1918.

Kein "finnischer Grieg"

Sibelius war keine "Erscheinung aus dem Wald", bestenfalls eine vom Rande eines kleinen Waldstücks in Järvenpää, 35 Kilometer nördlich der Finnischen Hauptstadt Helsinki, nahe einer Künstlersiedlung, wo er sich ein nationalromantisches Holzblockhaus errichten ließ. Der urbane Künstler, der mondäne Restaurants liebte, Spaziergänge und Bootsfahrten in Hut, eleganten Maßanzügen und -Schuhen unternahm, drang nie weiter als 400 km nordöstlich von Helsinki vor.

In der Anonymität der Metropolen, in Rom, London, Paris und Berlin, wo er sich mehr als 30 Mal aufhielt, konnte er konzentriert komponieren. Der Urklang von Naturerscheinungen - Wind, Obertöne eines Roggenfeldes, Wasser, Flugformationen, Flügelschläge und Schreie von Kranichen, Steinblöcke in der Landschaft - übersetzte sich ihm synästhetisch in Musik. Für einen "nationalen Tondichter gehalten zu werden", fand er beleidigend, was jene überrascht, die ihn als Komponisten überproportional populär gewordener Werken wie "Valse triste", "Finlandia" oder "Alla marcia" (aus der "Karelia-Suite") kennen, vielleicht noch von "En saga", des Violinkonzerts und der ersten zwei Sinfonien. Das Interesse an diesem Sibelius erklärt sich mit der Sehnsucht nach dem wilden "Norden", nach der "Aura", dem "Geheimnis", des "Nordens", Festivals, Konzerte und CDs zu vermarkten oder den Tourismus anzukurbeln: Sonnenuntergang vor 1000 Seen.

Sibelius, Nurmi und die "finno-ugrische Rasse"

Auch in Finnland ist sein Bild nicht frei von Missverständnissen und bis heute "eine kulturpolitische Herausforderung geblieben". Bereits in den 20er Jahren hielt die Mehrzahl der Finnen Sibelius für weniger "finnisch" als den legendären Olympiasieger Paavo Nurmi.

Der Langstreckenläufer wurde ein "Nationalheld", ein den "echten Einheimischen" verwandter Übermensch, der die "finno-ugrische Rasse" in Reinform repräsentierte. Sibelius, "elitär, schwedischsprachig und kosmopolitisch", eignete sich nach der Unabhängigkeit Finnlands 1918 nur beschränkt zur nationalen Identifikationsperson.

Reines kaltes Wasser - keine raffinierten Cocktails
Das liegt wohl am "eigentlichen" Sibelius, der mit seinen sieben Sinfonien die europäische Sinfonik weiterführte, dem Komponisten der Tondichtungen, wie etwa "Die Okeaniden" oder "Tapiola", des grandiosen Orchesterliedes "Luonnotar" oder des Streichquartetts "Voces intimae". Dieser Sibelius war ein "bedingungsloser Individualist der Moderne", der sich von der Sprache der vorgefundenen Tonkunst befreite - "Keine toten Noten. Jeder Ton muss leben!" -, ohne radikaler Neutöner zu werden.

Das Neue dieses "authentischen irrationalistischen Naturkomponisten" war nicht spektakulär, spekulativ, angelesen oder modisch. Es ist Ergebnis "bewusster Wiederherstellung des ursprünglichen, unschuldigen, Komponierens" und des elementaren Bedürfnisses nach Umsetzung von Erfahrung in Musik, wie der Autor Tomi Mäkelä engagiert, nicht eifernd, argumentiert und nachweist.

Statt raffinierter musikalischer "Cocktails" - und Rezepte - biete er, so Sibelius, "reines kaltes Wasser" an. Eine Kompositionstechnik oder eine Theorie, auf die man sich analytisch oder schulbildend beziehen könnte, hat er nie vorgelegt. Diese bewusste Weigerung hat eine ideologisch unverstellte Begegnung mit seiner Musik oft genug verhindert. Mittlerweile betonen zahlreiche zeitgenössische Komponisten und Musikwissenschafter das "Moderne" seiner Hauptwerke mit ihren "minimalistischen, ihren mikro-polyphonalen Techniken" und der Vorwegnahme von "Klangflächen".

Sibelius und die Aura des Nordens

Das Bild vom "Magier des Nordens" erfüllte Bedürfnisse und Erwartungen von Journalisten, Publizisten, Interpreten und Zuhörern. Die "Genesung des Nordens am Süden" erhoffend, finden sich ausgesprochen "nordische" Sujets selten, und wenn, dann immer an der griechischen Antike, mitteleuropäischen Mythen und am Orientalismus beziehungsweise Exotismus der Jahrhundertwende orientiert. Auch der von Sibelius seit seinem Studienaufenthalt in Wien, Oktober 1890 bis Juni 1891, entwickelte, oft als "nordisch" empfundene, Orchesterklang hat keine Vorbilder in finnischer Folklore oder im "Kalevala", dem finnischen Nationalepos, sondern ist ein authentisches Kunstprodukt, Anregungen von Wagner und Bruckner weiterentwickelnd.

Teil der weltoffenen "nordischen Avantgardisten"

Dass Sibelius in Österreich, besonders in Wien, eine verkannte Größe ist, kann zwar nicht behauptet werden - immerhin wurden zwischen 1994 und 2002 alle seine Sinfonien zwei Mal zyklisch aufgeführt.

Trotzdem: Der Antagonismus zwischen "ästhetischer Innovation" beziehungsweise "Fortschritt" und "naiv-bornierter Reaktion", auf den man Sibelius oft festlegen wollte, ist schlicht unhaltbar. Einem solchen vulgär-modernistischen Antagonismus stellt das Buch Mäkeläs das Bild eines reflektierenden Künstlers entgegen, der Teil der weltoffenen "nordischen Avantgardisten war, die die Avantgarde der Moderne" bildete: Ibsen, Strindberg, Hamsun, Munch et cetera.

Die verbrannte 8. Sinfonie
Warum Sibelius nach der Tondichtung "Tapiola" und der Bühnenmusik zu Shakespeares "The Tempest" gut 30 Jahre bis zu seinem Tod im Alter von 92 kaum noch komponierte und seine 8. Sinfonie in den 40er Jahren verbrannte? Auch darauf versucht das neue Sibelius-Buch eine Antwort zu geben: Altersmüdigkeit, Alkohol und "vor allem hemmende Selbstkritik." Sibelianer durchstöbern immer noch Archive, Keller und Dachböden nach einer Kopie dieser legendären "Achten".

Hör-Tipp
Apropos Klassik, Freitag, 21. September 2007, 15:06 Uhr

Buch-Tipps
Tomi Mäkelä, "Poesie in der Luft. Jean Sibelius. Studien zu Leben und Werk.", Breitkopf & Härtel ISBN 9783765103636

Erik Tawaststjerna, "Jean Sibelius", Jung und Jung, übersetzt aus dem Finnischen und Schwedischen von Gisbert Jänicke, ISBN 3902144947

Hartmut Krones (Hrsg.), "Jean Sibelius und Wien", Böhlau Verlag ISBN 32053771419

Veranstaltungs-Tipp
Buchpräsentation "Poesie in der Luft. Jean Sibelius", Kurt Schwertsik und Manfred Wagner im Gespräch mit dem Autor Tomi Mäkelä, Donnerstag, 20. September 2007, 18:00 Uhr

Links
Jean Sibelius Gesellschaft Deutschland - Sibelius-Gedenktafel wird in Wien enthüllt
Jean Sibelius
Jean Sibelius - Zeittafel
Wikipedia - Jean Sibelius
Schönberg Center Wien - Buchpräsentation