Naomi Klein über neoliberale Umwerter

Die Schock-Strategie

Vom seriösen Feuilleton ist Naomi Kleins neues Buch böse verrissen worden. Die kanadische Globalisierungskritikerin hat jedoch kein wissenschaftliches, sondern ein journalistisches Buch geschrieben, eben ein Werk der Pop-Art.

Naomi Klein wird bestimmt nicht als bedeutende Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretikerin in die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft eingehen. Sie wird überhaupt nicht in die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft eingehen. Ihr Buch, ein Werk der internationalen Bestseller-Industrie, wird in zehn, fünfzehn Jahren wohl mehr oder weniger vergessen sein. Umso vorurteilsloser, entspannter, unverkrampfter kann man es jetzt lesen.

Krise nützt Schock-Reformen

Kleins Hauptthese hat durchaus etwas für sich. Sie lautet: Die neoliberalen Umwerter aller Werte instrumentalisieren politische Umbrüche, Naturkatastrophen, terroristische und militärische Heimsuchungen - also Krisen aller Art -, um über die Köpfe der Bevölkerung hinweg politische Schock-Reformen durchzusetzen, die in einer normalen politischen Situation nie und nimmer durchzusetzen gewesen wären.

Die Anhänger der Schock-Strategie sind davon überzeugt, dass nur ein großer Umbruch - eine Überschwemmung, ein Krieg, ein Terroranschlag - ihnen die riesige saubere Leinwand liefern kann, nach der sie sich sehnen.

Stets geht es um Deregulierung der Märkte, Privatisierung des öffentlichen Sektors, um den Abbau staatlicher Sozialleistungen.

Falkland-Krieg war Thatchers Rettung

Naomi Klein bringt eine imponierende Fülle von Beispielen, die ihrer These Plausibilität verleihen sollen. Nach dem Hurrikan "Katrina" etwa wurde das öffentliche Schulsystem von New Orleans mit einem Federstrich privatisiert. Gab es vor dem Desaster noch 123 öffentliche Schulen, waren es nach "Katrina" bloß noch vier.

Beispiel Großbritannien: Margaret Thatcher stand im Frühjahr 1982 kurz vor ihrer Abwahl, als ihr die argentinischen Militärmachthaber den Gefallen taten, die Falkland-Inseln im Südatlantik zu besetzen. Der von Thatcher liebend gern aufgegriffene Fehdehandschuh brachte den Falkland-Krieg, und der wiederum brachte der "Eisernen Lady" jene Popularität, die ihr erst die Wiederwahl 1983 und damit eine Art "Carte blanche" für umfassende neoliberale Reformen sicherte.

Beispiel Polen

Ein weiteres Beispiel, das Naomi Klein in ihrem Buch zitiert, ist der Übergang Polens von einem bankrotten Staat mit kommunistischer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft, nun ja, westlichen Zuschnitts. 1989 kam die Solidarnosc an die Macht. Das wirtschaftspolitische Erbe der Diktatur war desaströs: 40 Milliarden Dollar Auslandsschulden und eine Inflation von 600 Prozent brachten Polen an den Rand des Untergangs.

Das wirtschaftspolitische Konzept der Solidarnosc hätte eigentlich umfassende Arbeiterselbstverwaltung vorgesehen, das heißt, die Gründung von Zehntausenden Kooperativen, die miteinander in produktiven Wettstreit treten hätten sollen. Davon war unter dem Druck des "Internationalen Währungsfonds" plötzlich keine Rede mehr. Ein wirtschaftlicher Super-GAU, die kolossale Schuldenlast und eine allgemeine Desorientierung aufgrund des schnellen Regimewechsels bedeuteten, dass Polen angeschlagen genug war, um eine radikale Schock-Therapie als angeblich einziges Mittel gegen den wirtschaftlichen Zusammenbruch in Anwendung zu bringen.

Der US-Ökonom Jeffrey Sachs konzipierte auf Einladung der Solidarnosc in angeblich nur einer Nacht, wie der Übergang Polens zur "freien Marktwirtschaft" zu bewerkstelligen sei: durch eine kapitalistische Radikalkur, die alles bis dahin Erprobte weit in den Schatten stellte. Der polnische Finanzimister Leszek Balcerowicz setzte Jeffrey Sachs' Plan in die Realität um.

Der damalige Finanzminister Balcerowicz hat inzwischen zugegeben, dass die Ausnutzung der Notsituation voll beabsichtigt gewesen war und wie alle Schocktaktiken dazu diente, Widerstände beiseite zu räumen. Er erklärte, er habe eine Politik durchsetzen können, die sowohl vom Inhalt als auch von der Form her das Gegenteil der Solidarnosc-Vision war, weil Polen sich damals in einem, wie er es nannte, "politischen Ausnahmezustand" befunden habe. Er beschrieb diesen Zustand als kurzfristiges Zeitfenster, in dem die Regeln "normaler Politik" - Beratungen, Diskussionen, Debatten - nicht gelten – anders ausgedrückt: eine demokratiefreie Nische innerhalb der Demokratie.

Nicht zimperlich

Diese demokratiefreie Nische ortet Naomi Klein auch in den USA nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001. Der kollektive Schock, der die Vereinigten Staaten nach der Attacke auf die Twin Towers erfasste, ermöglichte es der Bush-Administration, die Bürgerrechte teilweise außer Kraft zu setzen und letztlich auch den Irak-Krieg vom Zaun zu brechen - beides Dinge, die sich unter normalen Umständen nicht so leicht hätten durchsetzen lassen.

Natürlich lässt sich mancherlei einwenden gegen Naomi Kleins Buch, gegen seinen polemischen Furor, seine flotte, bisweilen allzu flotte Schreibweise. Sei's drum. Die kanadische Globalisierungskritikerin hat kein wissenschaftliches, sondern ein journalistisches Buch geschrieben, ein Werk der Pop-Art, nicht der akademisch abgesicherten Politik- oder Wirtschaftswissenschaft. Die publizistischen Handlanger der neoliberalen Gegenreformation sind auch nicht zimperlich - vom "Wall Street Journal" bis zu "Fox News". Auf einen groben Klotz, möchte man sagen, gehört eben bisweilen ein grober Keil.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Naomi Klein, "Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus", aus dem Englischen übersetzt von Hartmut Schickert, Michael Bischoff und Karl Heinz Silber, Verlag S. Fischer