Im Korsett gefangen

Die Namenlose

Jagoda Marinić misstraut den glatten, geradlinigen Geschichten. Ihr erster Roman, "Die Namenlose", ist ein Experiment. Er läuft auf mehreren Ebenen dahin und ist auch in verschiedenen Grautönen und Schriftgrößen gesetzt.

Es gibt keine direkten Wege von A nach B, nicht im Leben und auch nicht beim Schreiben. Jagoda Marinić misstraut den glatten, geradlinigen Geschichten. Ihr erster Roman, "Die Namenlose", betritt das offene Feld und wenig begangenes Terrain. Das Buch ist ein Experiment, es sticht aus der Masse der Neuerscheinungen heraus.

Sperrige Person

"Eine Geschichte, die sein will", heißt es am Beginn des Bandes, eine Geschichte aber auch, die sich querlegt und von den ersten Zeilen an fordert. Schon die Namenlose, wie die Hauptfigur und Ich-Erzählerin genannt wird, ist eine seltsam sperrige, unzugängliche Person. Den Vater hat sie früh an den Alkohol verloren, die Mutter an die Bitterkeit. Bis auch die den Schnäpsen und Likören verfällt.

Die Tochter hat Liebe immer nur als Enttäuschung erlebt, als Schmerz ohne Ende. Sie ist erst 17, als sie ihre Familie für tot erklärt und aus der Kleinstadt, wo sie aufgewachsen ist, nach Berlin flüchtet. Dort soll ein neues Leben beginnen, ohne Verletzungen und ohne Tränen. Schlachtpläne entstehen, innere Panzer, eine Abwehrhaltung.

Verzicht aufs Leben

Verzicht auf vielsagende Blicke, die zurückgenommen werden beim ersten Zweifel, Verzicht auf Hoffnungen, geschürt von Büchern und Fernsehindustrie, Verzicht auf Zeitbomben und Trennungsdepression, Verzicht auf die heutige Beziehung, wie sie üblich ist, Verzicht auf Liebe, die sich als Depressivum entpuppt - noch nie habe ich so gewinnbringend verzichtet. Hallelujah, der freie Markt. Wir müssen arbeiten, funktionieren, da bleibt keine Zeit für Gefühlsausbrüche und Tellerwürfe. Wir wählen den, der unser Leben am wenigsten behindert. Unterm Strich steht dann: Liebe."

Wer sich mit solchen Programmen durch den Alltag hantelt, der versäumt das Leben. Das weiß auch die zweite Ich-Erzählerin, eine Art Alter Ego der Hauptfigur. Sie kommentiert das Innenleben der Namenlosen und versucht, sie mit sich und ihrer Vergangenheit zu versöhnen. Vielfältige Reflexionen werden zur poetischen Selbsterkundung, die zusätzlich noch mit Fußnoten versehen ist: ein doppelter Kontrollmechanismus, um sich dem Erzählen nicht blindlings auszuliefern.

Innere Gegenspielerin

Das Buch von Jagoda Marinić läuft auf mehreren Ebenen dahin und ist auch in verschiedenen Grautönen und Schriftgrößen gesetzt. Während die Namenlose alles Unkraut aus ihrem gut gesicherten Großstadtgarten entfernt und ihn zur keimfreien Zone erklärt, ringt ihre innere Gegenspielerin um ihre Sätze und ertrinkt fast im Erzählfluss. Hat die Geschichte, die sich vor ihr auftut, eine Chance?

Nur noch schreiben. Wer will denn nur noch schreiben? Ich schreibe mich in das Leben der Namenlosen, doch ich ergattere nichts als winzige Momente. Sekundentränen. Sobald sie mich wittert, sobald etwas die Seite in ihr berührt, die mir gehören müsste, ist alles vorbei. Ich will nicht mehr, will nicht mehr nur schreiben müssen. Ich will leben dürfen.

Dämme niederreißen

Die Namenlose, die sich als Bibliothekarin durch Berlin schleppt, führt ein Leben aus zweiter Hand. Sie bleibt Zuschauerin, ihre starren Vorsätze werden zum Korsett. Da taucht Ivan auf und wirbt um sie. Einer wie er scheint besonders gefährlich, gerade auch in seiner Hartnäckigkeit. Doch ihm und dem Wiedersehen mit der sterbenden Mutter gelingt es, Dämme niederzureißen. Plötzlich fluten die Tränen.

Die Geschichte der Namenlosen wirkt klar, fast schon asketisch und hart. Die Dialoge bleiben in der Andeutung, die Schilderung des Alltags straff und ohne Schnörkel. Ganz anders jene Abschnitte, in denen man der anderen Seite dieses weiblichen Wesens begegnet. Da kommt es zu Gefühlsausbrüchen und Verzweiflungsanfällen, zu schwärmerischen Interpretationen der eigenen Psyche und Befindlichkeiten. Es gibt Sätze, die etwas überspannt klingen, oft auch kokett.

Nichts von Bedeutung gesagt. Vielleicht aber auch alles. Vielleicht habe ich gelernt, dass die wahren Geschichten, die, aus denen Menschen gegossen werden, nicht erzählbar sind.

Keine konventionelle Literatur

Marinić gefällt sich in Sentenzen und drechselt an ihrer Sprache, oft auch an der Konstruktion ihres Romans. Es gibt Momente, da wird Kunst zum Kunsthandwerk. Das könnte man dem Buch vorwerfen – und nicht nur das. Der ganze Roman wirkt sehr artifiziell, eine Kopfgeburt. Die Sinnlichkeit wird den Ambitionen geopfert, den hochgeschraubten Ansprüchen einer Autorin, die sich selbst nicht ganz zu trauen scheint.

Der Roman schlittert dahin, er ist kein konventionelles Stück Literatur, aber auch kein avantgardistisches Gebilde. Er hängt irgendwo dazwischen. Auffällig ist er allemal. Er zweigt auf Seitenstraßen ab. Es sind etliche Sackgassen dabei. Ihnen nicht auszuweichen - auch das braucht Mut. Und den muss man Jagoda Marinić jedenfalls zugestehen.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 18. November 2007, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Jagoda Marinić, "Die Namenlose", Verlag Nagel & Kimche