Heimito von Doderers "Strudlhofstiege"

Chaos und Ordnung

Es ist einer der epochalen Großstadtromane des 20. Jahrhunderts und gilt bis heute als der "Wien-Roman" schlechthin. Dreh- und Angelpunkt des 1951 erschienenen Werkes ist die im neunten Wiener Gemeindebezirk gelegene Strudlhofstiege.

Als Mary K.s Gatte noch lebte und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte.

Der Inhalt von Heimito von Doderers Roman "Die Strudlhofstiege" ist schon im ersten Satz enthalten: Wie kann da noch Spannung entstehen - auf den 900 folgenden Seiten?

Finale vorweggenommen

Es kommt nicht auf die Inhalte an: "Ein Werk der Erzählungskunst ist es umso mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann", dekretierte Doderer 1966.

Im Straßenbahnunfall wird das hochdramatische Finale vorweggenommen. Mary K. und Melzer hätten 1910 ein Paar werden können, aber er bekam von Mary einen Korb und sieht sie erst 15 Jahre später, also nach historischen Veränderungen, wieder, und zwar in dem Augenblick, da sie gerade von der Straßenbahn überfahren und ihr das eine Bein "über dem Knie" abgetrennt worden war. Geistesgegenwärtig rettet Melzer ihr das Leben, indem er die Wunde so abbindet, dass Mary nicht verblutet.

Das Füllhorn der Zufälle ist dem Autor stets zur Hand: Thea Rokitzer, eine junge Dame, in die Melzer verliebt ist, ist - nicht verabredet - zur Stelle und steht ihm bei. So finden die beiden zueinander, und das Buch endet, womit die Komödien auch zu enden pflegen: im Hafen der Ehe.

Riskante Brückenkonstruktion

Melzers Trennung von Mary und die Wiederbegegnung mit ihr unter bizarren Umständen - das sind die beiden Pfeiler, die die riskante Brückenkonstruktion des Romans zu tragen haben.

Melzer selbst fungiert auch als Bindeglied der verschiedenen Gesellschaftsschichten: Einerseits hat er Kontakt zu den großbürgerlichen Kreisen der Familie Stangeler, deren Geschichte vor allem aus der Sicht des jungen Historikers René Stangeler erzählt wird. Renés Schwestern Asta und Etelka sind weitere Repräsentantinnen dieser Familie; vor allem ist es die Geschichte der Etelka, die ebenso markante Eckpunkte des Romans darstellt.

Die Übermittlung der Nachricht von ihrem Selbstmord durch René an Melzer erfolgt unmittelbar vor dem Unfall der Mary K. Um es vereinfacht zu formulieren: Den großbürgerlichen Kreisen ist die Tragödie, und den kleinbürgerlichen, in denen Melzer schließlich landet, die Komödie zugeteilt.

Eingebettete Zwillingsgeschichte

In die Melzer-Handlung ist schließlich noch eine Zwillingsgeschichte eingebettet: Editha Pastré-Schlinger und ihre Schwester Mimi sehen einander zum Verwechseln ähnlich, und Editha nutzt dies auch aus, zuletzt zu einem außerordentlich dilettantisch geplanten Zigarettenschmuggel. Gegen diese mit einem ihr unangemessenen Aufwand erzählte Geschichte wird aus den Reihen der Familie einer jungen Frau, die einst mit René befreundet war, wirksam opponiert.

Auch wenn der Paula Pichler, geborener Schachl, in die vertrackten Intrigen noch die Durchblicke fehlen, so tut sie doch das Richtige, und sie ist es, die zuletzt auch die Fäden in der Hand hat, um Melzer aus den Umschlingungen der Pastré-Schlinger und ihren dubiosen Zigarettentransaktionen zu befreien und der Thea Rokitzer zuzuführen.

So viel nur, um der doch unverzichtbaren Inhaltsangabe Tribut zu zollen.

Scheinbare Anhäufung von Bagatellen

Keineswegs schämt sich Doderer trivialer Motive, im Gegenteil, er spekuliert sogar damit, so, dass der Leser an derlei Gefallen findet, ja es scheint fast, als würde er eine Handlung umso sorgfältiger und lustvoller in Szene setzen, je banaler und abgegriffener sie im Endeffekt anmutet. Die Reduktion auf den Inhalt wirkt fast wie ein böswilliges Vorgehen gegen den Text, der so wie eine Anhäufung von Bagatellen wirkt.

Kunstvoll ist das Spiel mit den verschiedenen Zeitebenen: Die Vorgeschichte reicht zurück in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, allerdings werden diese Partien oft übergangslos eingeblendet. Die Handlung setzt im Nachsommer 1923 ein. Der erste Teil des Romans führt in die Jahre 1910 und 1911, wo es um einen Tag des Gymnasiasten René Stangeler und um die Einführung seiner Schwester Etelka geht; ein kurzer Einschluss in diesen Rückblenden führt allerdings bereits ins Jahr 1925 voraus, um die Situation Melzers nach dem Krieg zu exponieren: Für ihn hatte die Katastrophe von 1918 keine drastischen Folgen.

Freilich ist diese historische Zäsur nicht zu tilgen, aber Doderer ist auffallend bemüht, die Konsequenzen solcher Umwälzungen im Vergleich zur Konstanz des Alltags als gering erscheinen zu lassen. Die große Wirtschaftskrise und vor allem die Inflation wirken sich kaum auf den Lebensstil der groß- wie kleinbürgerlichen Schichten aus.

Weltanschauliche Befangenheiten

Dieser wohlwollende Umgang mit der "Tiefe der Zeiten" ist nicht nur ein Mittel zur Wiedergewinnung der Vergangenheit, es ist dies auch ein handfestes Programm, das in die Zeit nach 1945 passte, und zugleich ein Versuch, die eigene Haltung der Vergangenheit gegenüber zu legitimieren, aber sich von der eigenen Verfehlung - Doderer war 1933 der NSDAP in Österreich beigetreten - zu distanzieren.

Seinen Roman "Die Dämonen" hatte Doderer im Sinne seiner damaligen Weltanschauung 1930 zu schreiben begonnen. Er erkannte, dass er mit diesem Konzept nicht weiterkommen würde - "Die Strudlhofstiege" sollte ihn von diesen weltanschaulichen Befangenheiten befreien, sie sollte die Rampe für die Wiederaufnahme mit diesem gewaltigen Werk sein, als dessen Höhepunkt der Brand des Justizpalastes vom 15. Juli 1927 gedacht war.

Richtiges Handeln

Das "Unternehmen Strudlhofstiege" glückte, da der Geburtsfehler, an dem die Dämonen krankten, penibel gemieden wurde. Und Doderer ist weise geworden; so lässt er seinen Helden René Stangeler just in der Nähe der Strudlhofstiege, vor dem Palais Berchthold, verkünden:

"Es gab nie eine europäische Situation, die früher oder später zum Kriege führen musste. Das sind feierliche Erfindungen von Interessierten, von Berufspolitikern, Generälen, G'schaftlhubern oder Historikern, oder Ausdünstungen jener Leute, denen die Sprache der Zeitungen durchs Hirn schwappt, wie das Spülwasser durch eine Clo-Muschel. Damit bringen sie dann freilich immer alles hinunter."

Richtiges Handeln im Politischen ergibt sich aus dem Widerstand gegen ideologische Phantasmagorien.

Dignität und Dekor

Es wäre verfehlt, in der "Strudlhofstiege" nicht mehr sehen zu wollen als eine Anlage, die sinnbildartig die Umwege im Leben des Menschen zu verkörpern hätte. Gewiss ist Doderer in dem emphatischen Hymnus auf die Strudlhofstiege auch auf Sinnstiftung aus, die beweisen will, dass "Dignität und Dekor" selbst in unserem Alltag allenthalben präsent sind, ja dass diese Prinzipien geradezu körperlich erfahrbar werden, indem ein "Gang (...) zur Diktion" wird. In diesem Bauwerk indes nur ein Dingsymbol zu erblicken, das die Umwegigkeit des Lebens veranschaulicht, verfehlt die komplexe Funktion der Raumgestaltung Doderers.

Die Strudlhofstiege ist das Gegenteil der "Hühnerleiter formloser Zwecke" und dient somit wohl auch dazu, das romaninterne Korrelat des Kunstwerkes an sich in seiner sublimen Absichtslosigkeit zu sein. Doderers imaginierte Räume sind prägnanter Ausdruck seines Willens zur Versinnlichung, der als stärkste Opposition zu jenen - für Doderer - unechten Abstraktionen zu gelten hat, die den Menschen irreleiten.

Subtile Ironie

"Es hat jede Affär' ihren Hintergrund, ihr Milieu, wie man sagt, das Leben ist immer der beste Regisseur: die Kulissen stimmen unsagbar gut zu dem, was gespielt wird", heißt es einmal. Deutlich ist die Kontrastwirkung, die durch die Opposition des großbürgerlichen Haushalts der Stangeler vor dem Krieg und des "Schachl-Gärtchens" nach dem Kriege erzeugt wird: Dass René nie in dieses Idyll kommt, gehört zu der subtilen Ironie, mit der dieser junge Mann aus gutem Hause bedacht wird: Melzer hingegen darf den Raum betreten.

Im Schachl-Gärtchen endet auch der Roman, mit einer Nachfeier zur Verlobung, die ein ebenso konventionelles wie eindrucksvolles Finale sein soll; der gute Ausgang wird ironisch durch den Erzählerkommentar unterlaufen, der das Paar mit einem Kommentar entlässt, der das Scheinhafte auch dieses Idylls sanft bewusst macht:

Wesentlich bleibt doch, dass die Ehe nie eine Lösung bilden kann, sondern immer nur die Aufstellung eines Problems, unter dessen neues Zeichen das betreffende Paar jetzt tritt (...).

Das Schachl-Gärtchen ist der Ort, an dem eine solche Verklärung des Glücks doch für einen Augenblick möglich ist.

Wien, wie er es sah

In diesem Rückzugsraum scheint das Idyll statthaft; die Familie Stangelers bleibt ausgeschlossen. Der schweren Destabilisierung in ethischer, ästhetischer und auch gesellschaftlicher Hinsicht nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Doderer ein mit Nachdruck behauptetes Ordnungskonzept entgegen, das sich im Roman manifestieren sollte.

Der Hintergrund, dem er trauen konnte, war die Stadt Wien, so wie er sie sah. Der Erfolg dieses Romans zu Beginn der 1950er Jahre schien Doderers Praxis zu bestätigen. Dieses Buch ist nicht ohne Grund für manche Wienbesucher zu einem literarischen Baedeker avanciert. Die Schule des Sehens kann so auch zu einer Schule des Gehens mit "Dignität und Dekor" werden.

Die Autorität des Erzählers

Dass die Erfahrung und Gestaltung des Raumes den Leser vor allem in ihren Bann ziehen soll, wäre vorab einmal festzuhalten. Melzers Lebenslauf in aufsteigender Linie ist singulär, denn dem Gelingen dieses Lebens steht ein vielfältiges Misslingen gegenüber. Da gibt es unzählige Kommunikationsstörungen, sei es durch Verwechslungen, Missverständnisse, Lügen und Betrug.

Auffallend ist das Missgeschick, das nahezu allen jenen widerfährt, die ihre Mitteilungen Briefen anvertrauen. Briefe kommen nicht an, werden irrtümlich oder mutwillig geöffnet, nicht aufgegeben, aufgefangen oder geben Anlass zu Missverständnissen.

Für die Dauer des Romans jedoch wird Ordnung hergestellt, eben dank der Autorität des Erzählers. Doch nach dem Finale werden sie alle in das Chaos des Lebens entlassen, allen voran Melzer. Die Fülle der Bilder von dichter Sinnlichkeit erzeugt zwischen dem chaotischen Leben und dem geordneten Kosmos der Erzählung eine Spannung; von dieser erhält der Roman eine Dynamik, deren Wirkung über alle biederen Lebensrezepte, mit denen er freilich auch nicht geizt, weit hinausreicht.

Infos

"Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre", mit Peter Matic, Peter Simonischek, Michou Friesz und anderen, 24., 25. und 26. Dezember 2016, jeweils 14:00 Uhr

Links
Heimito von Doderer-Gesellschaft
Wikipedia - Heimito von Doderer