Die Juden und Griechenland
Thessaloniki, Mutter Israels
Etwa zwei Jahrhunderte lang galt Saloniki als die Stadt, in der weltweit die meisten Juden lebten. Hundertdreißigtausend waren es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, heute zählt die jüdische Gemeinde Saloniki knapp tausendzweihundert Mitglieder.
8. April 2017, 21:58
Die Geschichte der Juden in Thessaloniki beginnt mit der Ankunft der knapp zwanzigtausend, die 1492 aus dem Reich von Ferdinand und Isabella hinausgeschmissen worden waren. Ihnen folgten im Jahr darauf die Juden aus dem spanisch regierten Sizilien und Süditalien und 1497 die, deren Heimat Portugal gewesen ist. Sultan Bejazid II. nahm die Vertriebenen gerne auf. Er wusste um die handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten seiner neuen Untertanen, die unter anderem als Gold- und Waffenschmiede, Seidenspinner und –weber bekannt waren.
Er vertraute auf ihren Beitrag zur Gemeinschaft, und er hatte sich nicht verrechnet: 1506 nimmt in Saloniki die erste jüdische Druckerei auf dem Balkan ihren Betrieb auf, viele andere folgten. Und bereits fünfzehn Jahre später galt die Stadt Saloniki, wie sie in der Sprache der spanischen Juden genannt wurde, als intellektuelle Hochburg des Judentums, als Zentrum der religiösen und weltlichen Dichtung und als Hauptstadt der Gelehrsamkeit, deren Theologen, Philosophen und Rechtsgelehrte überall in Europa geschätzt wurden.
Lob für Saloniki
1537 lobt der aus Italien stammende Samuel Uskue seine neue Heimat, das "große Türkenreich", in dem der Sultan Religionsfreiheit gewährt, als das "Gelobte Land" und spart nicht mit Lob für Saloniki.
"Du bist", schreibt er, "der glaubensstarke Baum von Thorafrömmigkeit und Arbeit, voller Blumen und beeindruckenden Gewächsen zur Ehre Israels. Deine Erde ist fruchtbar, bewässert von den Flüssen des Mitgefühls und der Gastfreundlichkeit. Hier ist es, wo eine jegliche erniedrigte oder arme Seele, vertrieben aus Europa oder von irgendeinem anderen Ort der Welt, eine Zuflucht findet. Und du wirst sie empfangen mit der Liebe einer Mutter, Mutter des Volkes Israel, wie einst Jerusalem in den Tagen seines Glanzes."
Selbsternannter Messias Sabbatai Zvi
Ende des 17. Jahrhunderts verliert Saloniki den Anschluss an die geistesgeschichtlichen Strömungen Westeuropas. Der Grund heißt Sabbatai Zvi. Er verkündete seit dem Jahr 1657, dass er der von den Juden erwartete Messias wäre, und dass sich "die Zeit erfüllen" würde. Er berief sich auf die Mystik der Kabbala und weckte so erhebliche Unruhe unter seinen Glaubensgenossen. Was die türkischen Behörden veranlasste, ihn zu verhaften und zum Tode zu verurteilen.
Sabbatai Zvi ergriff die einzige Möglichkeit, der Hinrichtung zu entkommen: Er konvertierte, wurde zum Muslim. Mit ihm bekehrten sich noch dreihundert andere Familien zum Islam. Diese Maßnahme rettete den Nachkommen, die fortan "Donmeh" genannt wurden, Jahrhunderte später das Leben. Als es nämlich nach dem ersten Weltkrieg zum griechisch-türkischen Krieg kam, der in der "Kleinasiatischen Katastrophe" endete, machten die türkischen Sieger zur Bedingung, dass alle Muslime Griechenlands mit allen Griechen Kleinasiens "Platz tauschen" sollten. So entgingen die Donmeh der Vernichtung durch die Nazis.
Saloniki profitierte vom Handel
Anfang des 19. Jahrhunderts gehörten die Juden Salonikis zu den ärmsten Bewohnern der Stadt. Das änderte sich aber, als Österreich-Ungarn in seinem "Drang nach Osten" die Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich intensivierte. Vor allem Saloniki profitierte. Der Hafen wurde ausgebaut, regelmäßige Schifffahrtslinien entstanden, ein Telegrafenamt sowie ein osmanisches, ein österreichisches und französisches Postamt wurden gebaut.
Das Judentum Salonikis erstarkte und entdeckte die europäische Moderne samt Sozialismus und Zionismus. Als 1890 ein großer Teil des Armenviertels eingeäschert wurde, stiftete der Baron Moises de Hirsch eine beträchtliche Summe, so dass die Siedlung Hirsch als eine der provisorischen Siedlungen für die Ärmsten der Armen erbaut werden konnte. Diese wurde 1943 dann zu einem Ghetto und Konzentrationslager, in dem tausende Juden bis zu ihren Abtransport in die Vernichtungslager dahinvegetieren mussten.
Judenviertel gekennzeichnet
Bis die ersten Deutschen in Griechenland einmarschierten, am 9. April 1941, sah es nicht wirklich bedrohlich aus für die Juden Griechenlands. Aber dann ging es Schlag auf Schlag. Der "Messagero", die einzige Jüdisch-Spanische Tageszeitung wurde eingestellt, Privathäuser und Öffentliche Einrichtungen requiriert, unter anderem auch das von Baron de Hirsch gegründete Jüdische Hospital. Die Jüdische Gemeinde erhielt einen neuen, den Deutschen genehmen Vorstand.
Im Sommer 1942 hatten sich alle arbeitsfähigen Juden zwischen 18 und 45 zum Arbeitsdienst zu melden. Im Dezember 1942 wurde der 500 Jahre alte Jüdische Friedhof eingeebnet. Am 6. Februar 1943 wurden die Rassengesetze in Kraft gesetzt. Zwei Tage später wurde das Tragen des Judensterns Pflicht und Judenviertel gekennzeichnet.
Deportation nach Polen
Am 14. März hatten sich die Einwohner der Siedlung Hirsch in ihrer Synagoge einzufinden. Rabbi Koretz informierte die Versammelten, dass sie in Polen eine neue Heimat finden würden. Am nächsten Morgen ging der erste Zug Richtung Polen. Die Siedlung Hirsch war frei für den nächsten Schub zu Deportierender. Die Zusammenarbeit der jüdischen Polizei mit den Deutschen soll sehr gut funktioniert haben.
Es heißt, dass die Führung der jüdischen Gemeinde Salonikis - aus Opportunismus? aus Naivität? - der Gestapo die Archive mit den Namen aller in Griechenland lebenden Juden gegeben hat. Wenn also Haim, die Hauptfigur der Erzählung "Neunzehnhundertdreiundvierzig nach Christus" vermutet, dass "ein fanatischer Rabbiner" den Juden das Tragen des Davidsterns "eingebrockt" habe, lag er gar nicht so falsch. "Das Gerücht" weiß von einem einzigen Würdenträger in ganz Griechenland, dem orthodoxen Bischof von Zakynthos, der sich weigerte, eine Liste mit den Namen von Juden abzugeben. Er überreichte dem deutschen Kommandanten der Insel ein Blatt Papier, auf der nur sein eigener Name stand.
Von den cirka fünfzigtausend Juden Salonikis wurden 46.061 Richtung Polen abtransportiert. Etwa Zweitausend überlebten. Wenige kamen nach Saloniki zurück, zumal sie der Stadt offensichtlich peinlich waren. Die cirka tausendzweihundert, die heute zur jüdischen Gemeinde zählen, ziehen es vor, möglichst wenig aufzufallen. Dennoch gibt es seit 1997, als Saloniki Kulturhauptstadt Europas wurde, ein Jüdisches Museum in der Stadt.
Buch-Tipp
Niki Eideneier (Hg.), "Die Sonnenblumen der Juden. Die Juden in der neugriechischen Literatur", Verlag Romiosini
Link
Jüdisches Museum Thessaloniki