Eine Kulturgeschichte der dunklen Stunden

Tiefer als die Nacht gedacht

Am Anfang aller Dinge war die Nacht, so könnte man die Schöpfungsmythen unserer Kultur verkürzt wiedergeben. Der Schöpfergott des Alten Testaments scheidet nach der Erschaffung von Himmel und Erde den Tag von der Nacht, so heißt es in der Bibel.

In der griechischen Antike hat die Nacht selbst schöpferische Potenz. Nach der Überlieferung durch Hesiod hat Nyx, die Göttin der Nacht, viele Kinder. Nur zwei, Hemera, den Tag, und Aither, die Luft, zeugt sie mit männlicher Hilfe, mit ihrem Bruder Erebos, der Dunkelheit der Unterwelt. Den Rest gebiert sie autonom: Hypnos, den Schlaf, das Geschlecht der Träume, aber auch jene personifizierten Wesen, die den Tag fürchterlich machen: das Verhängnis, das Verderben, den Zwist, Spott und Tadel, das Alter - und Thanatos, den Tod.

In ihrer umfangreichen Studie ist Elisabeth Bronfen dem Schrecken der Nacht mit dem Werkzeug der Kulturwissenschaft zu Leibe gerückt:

Indem wir Geschichten davon erzählen, wie die Nacht durch den Sieg des Lichts entmachtet wurde, wird der Schrecken, der von ihr ausgeht, entschärft. Denn die Übertragung in Worte hat die namenlose Furcht zu einer vertrauten Erfahrung gemacht. Das Unbestimmte, das vor der Namensgebung liegt, bleibt uns zwar unzugänglich, muss aber immer auch mitgedacht werden; als ein auf ewig im Dunkeln liegender, ungreifbarer und deshalb auch unbegreifbarer Fluchtpunkt des Erzählens.

Aber die Nacht kehrt immer wieder. Und sie ist ohne ihr Gegenteil, den Tag, ebenso wenig zu denken wie die Finsternis ohne das Licht. Platons Höhlengleichnis ist der erste aufklärerische Topos der abendländischen Philosophiegeschichte, der den Weg aus der nächtlichen Dunkelheit ans Licht der Erkenntnis weist, die Bibel setzt ein in Finsternis und endet im Licht der Apokalypse. Die erlösenden Momente des Christentums, die Geburt Christi und die Auferstehung, geschehen nachts.

Im Wesen der Nacht liegt ihre Widersprüchlichkeit: zur ihr gehört das Mütterliche, die beschützende Qualität ebenso wie die Gefahr und das Abgründige: die Nacht als Ort der bösen Geister und Dämonen.

Weil mit jedem Sonnenuntergang die feste, klare Welt des Tageslichts und der Vernunft in einer dunklen Flut der Finsternis versinkt, hat das Christentum die Nacht seit jeher als Werk des Teufels verstanden, in dem die Macht des Bösen am größten ist. Gott hat zwar den lichten Tag aus der Dunkelheit geschaffen, doch der muss immer von Neuem der Nacht abgerungen werden. So versteht der Aberglaube die Nacht nicht nur als eine Vernichterin der Sonne und des Lichts, die mit jeder Dämmerung die Welt verschlingt, um sie bei Morgenröte wieder unversehrt aus sich herauszulassen. Am Machtkampf zwischen Tag und Nacht entscheidet sich auch die Frage, ob das Gute oder die moralische Finsternis obsiegen wird.

Mit dieser Frage beschäftigt sich auch die christlich geprägte Romantik, die als Antwort auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Qualität der Nacht wieder in ihr Recht gesetzt hat. Aus dem kulturellen Erbe des Abendlandes auf der Bühne, in Romanen, in der Lyrik, in der Kunst und im Kino ist die Nacht nicht wegzudenken.
Freud hat der Psychoanalyse die Nacht als innerpsychischen Raum erschlossen.

Bronfen betritt literarische Räume mit dem psychoanalytischen Handwerkszeug - etwa die Schauerliteratur um 1800, die in der Fiktion ausleuchtet, was die Psychoanalyse erst sehr viel später systemisch erfasst hat. Oder Shakespeares Sommernachtstraum: hier ist die Nacht der weibliche Raum, in dem Wissen gewonnen wird, das am Tag wieder vergessen werden muss - Parallelen dazu gibt es im 20. Jahrhundert in George Cukors Filmkomödie "Philadelphia Story" mit Katherine Hepburn in der Hauptrolle.

Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da. Für alle, die ihre Gedanken nicht nur träumend ihren Kissen anvertrauen wollen, öffnet sich nach Anbruch der Dunkelheit ein anderer Zeitraum. In der Nacht erfährt die Tageswelt eine Spiegelung und einen Kommentar. Es gibt eine andere Zeitrechnung, eine Zeit ohne Rechnung, eine Zeit der Abrechnung.

Anhand einer ungeheuren Fülle von Material bahnt sich Bronfen ihren Weg, und diesen geht der Leser recht beschwerlich mit ihr. Die Quantität des Materials, das hier verarbeitet wurde, wird dem Buch zum Verhängnis. Die Nacht im Steinbruch der europäischen Kulturgeschichte restlos herauszuklopfen, ist ein überaus ambitioniertes, aber schier unmögliches Unterfangen. Insofern wäre ein Weniger an Material, dessen Übergewicht zudem aus der englischsprachigen Literatur stammt und den Anspruch einer umfassenden Kulturgeschichte aufweicht, ein Mehr gewesen.

Der rote Faden eines ideengeschichtlichen Konzepts fehlt, eine gezielte Auswahl hätte gut getan: Da gibt es ein bisschen Antike, kein Mittelalter, Shakespeares ausführliche Behandlung ersetzt die Renaissance, Dante fehlt, da und dort ein bisschen Romantik, aber kein systematischer Blick auf diese wichtigste, nachtschwärmerische Epoche, Trakl, dessen nahezu gesamte Lyrik sich an die Nacht richtet, wird nicht erwähnt. Stattdessen ein dichter Dschungel von Material aus englischen und amerikanischen Romanen und aus dem Kino.

Es ist durchaus spannend und aufschlussreich, die Kinder der Nyx im Film noir zu identifizieren, zugleich bedarf es zum besseren Verständnis der zum Teil kumulativ aufgezählten Beispiele seitenlanger ermüdender Inhaltsangaben.

Darüber hinaus macht Bronfens Sprache die Lektüre freudlos: die Wortakrobatik mit pseudophilosphischem Gestus anstelle von sprachlicher Präzision und Prägnanz auf über 600 Seiten strapaziert die Geduld und befördert das Verschmelzen mit dem Gegenstand, man gleitet erschöpft ab in die Nacht.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Elisabeth Bronfen, "Tiefer als die Nacht gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht.", Hanser Verlag

Veranstaltungs-Tipp
Wiener Vorlesungen, Elisabeth Bronfen, Dienstag, 25. März 2008, 19:00 Uhr, Wiener Rathaus, Festsaal

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