Das Leben im neuen Land

Psychologie der Migration

Über Migranten und Migrantinnen wird viel gesprochen in der Politik und in den Medien, aber sie selbst kommen nur selten zu Wort. Wie erleben Zuwanderer in Österreich - und umgekehrt Österreicher im Ausland - den Wechsel in eine andere Kultur?

Die meisten Migranten und Migrantinnen verlassen ihr Herkunftsland aufgrund politischer oder wirtschaftlicher Zwänge. Die wenigsten ziehen ganz freiwillig fort, rein aus Wissbegier, aus dem intuitiven Wunsch, die Grenzen der Persönlichkeit zu erweitern, aus der "Neugier des Menschen gegenüber sich selbst".

Doch selbst Migranten aus freien Stücken müssen mit einem mehr oder weniger intensiven Entwurzelungsgefühl zurechtkommen. Der Steirer Bernd Genser, Biostatistiker, Spezialist für medizinische Studien, hat seinen Lebensmittelpunkt nach Salvador da Bahia in Brasilien verlegt. "Die Lebensform der Migration hat ein ungeheures Potential, aber man zahlt den Preis dafür. Natürlich gibt’s den Schmerz, dass ich nicht weiß, wo ich zu Hause bin. Das Fehlen des absolut Zentralen, der Heimat - das ist der Preis."

Entwurzelungsgefühl

Wie stark dieses Entwurzelungsgefühl auf Dauer erlebt wird, hängt auch davon ab, wie gut man sich in der "neuen Heimat" aufgenommen fühlt. Aus eigener Erfahrung weiß das der Sozialarbeiter Bülent Öztoplu, Gründer der Wiener Plattform "Echo" für Jugendliche mit Migrationshintergrund und der gleichnamige Zeitschrift.

"Wenn unsere Gegenwart, die Gesellschaft, in der wir gerade leben, uns weniger aufnimmt, dann haben wir mehr Sehnsucht nach unseren Wurzeln. Als Türke ist man hier noch nicht Normalität geworden. Man muss ständig 'der gute Ali' sein, ständig beweisen, dass man anständig und 'ohnehin' keine Gefahr ist. Das bedeutet schon einen Leistungsdruck. Ein halber Teil meines Körpers und meiner Seele zieht mich zu meinen Wurzeln. Weil ich noch nicht sicher bin, ob ich hier begraben werden will."

Eine enorme psychische Herausforderung

Die Gewöhnung an eine neue Kultur und Gesellschaft wird von fast allen Migranten und Migrantinnen als tiefer Einschnitt in die persönliche Entwicklung erlebt. Wer psychisch genügend autonom ist, über Mut zum Risiko und Kreativität verfügt, kann aus dieser Krise mit Gewinn aussteigen. Das Durchtrennen der Wurzeln kann zur "zweiten Geburt" werden, der Philosoph Vilém Flusser hat dieses Phänomen mehrfach beschrieben.

"Eine Zeitlang lehnst du hier alles ab, und willst nur zurück", berichtet der 1981 aus Ungarn geflüchtete Künstler Gyula Fodor. "Aber eines Tages kommt ein Punkt, wo sich plötzlich alles umdreht. Ein großes Aufatmen, ein unglaublich glückliches Gefühl, das diesen Grundton von Traurigkeit übertönt."

Wenn der "Umbau der Identität" gelingt

"Die Freiheit, die man erreicht, wenn man durch den Tunnel durch ist, ist viel größer, als du vorher jemals für möglich gehalten hättest. Das ist eine lebensbegleitende Euphorie. So, wie dieser Restschmerz immer darunter sparsam glüht - aber diese Euphorie der Freiheit ist viel größer", so Gyula Fodor.

Ob ein Migrant solche Chancen wahrnehmen kann, hängt davon ab, wie sehr er oder sie in der Lage ist, sich gegenüber der fremden Gesellschaft zu öffnen, Teile der anderen Lebensweise in sein Selbst zu integrieren, ohne alles Mitgebrachte aufzugeben.

"Die Menschen, die sich in der neuen Heimat gut eingelebt haben und auch die Sprache halbwegs gelernt haben, werden weniger psychisch krank. Das ist einfach so", erklärt Hüseyin Kalayci, der am Wiener Gesundheitszentrum "Men" türkisch- und kurdischsprachige Migranten psychisch berät. "Die Menschen, die gefühlsmäßig die neue Heimat ablehnen und sich überhaupt nicht mit ihr identifizieren können, sich also in ihren eigenen Kulturkreis zurückziehen und somit in der Isolation leben, werden mehr psychisch krank".

Wie "Parallelgesellschaften" entstehen

Die Entstehung sogenannter "Parallelgesellschaften" sei nicht nur auf Ablehnung seitens der alteingesessenen Bevölkerung zurückzuführen, sondern auch darauf, dass vor allem Gastarbeiter der ersten Generation oft psychische Sperren gegen die fremde Kultur aufgebaut hätten - auch, weil sie lange den Rückkehrertraum hegten.

"Die Menschen, die die Sprache trotz vieler Schwierigkeiten gelernt haben, sind auch zum Teil Analphabeten, Menschen mit niedrigem Bildungsniveau - aber die haben sich bemüht. Wer sich bemüht, schafft für sich neue Möglichkeiten".

Ein beherzigenswertes Rezept - nicht nur für Migranten und Migrantinnen. "Das 'Fremdeln' ist eine Angst, die die eigene Identität in Frage stellt. Eigentlich das ist keine begründete Angst. Identität, die persönliche soziale Identität, kann ja auch wachsen und ist nichts Statisches. Im Grunde haben wir alle eine Bastel-Identität".

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipps
León und Rebecca Grinberg, "Psychoanalyse der Migration und des Exils", übersetzt von Flavio Ribas, Verlag Internationale Psychoanalyse

Texte von Vilem Flusser, z. B, "Von der Freiheit des Migranten", über Amazon antiquarisch zu bekommen

"Frauen aus aller Welt kochen und erzählen", Hg. Olivia Mugabe-Mitterer, Sylvia Mitsche, Evi Wunder, Norea Verlag, erhältlich über die Website der Projektgruppe Frauen

Links
MEN - Männergesundheitszentrum
FEM - Frauengesundheitszentrum
Peregrina - Bildungs-, Beratungs- und Therapiezentrum für Immigrantinnen
Projektgruppe Frauen