Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer

Die Wieder(er)findung der deutschen Sprache

Urs Widmers Literatur möchte - nach eigener Definition - "möglichst viel gesellschaftliche Wirklichkeit spürbar werden lassen". Dabei gelingt ihm ein Schreiben, das fantasievoll, spannend oder auch ironisch bis surreal ist.

Urs Widmer über die deutsche Sprache

Der 1938 in Basel geborene Urs Widmer lebte viele Jahre lang in Deutschland. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke und Hörspiele. Unter anderem ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er promovierte 1966 zum Thema "Deutsche Nachkriegsprosa", und dieses Thema beschäftigt ihn bis heute: Was hat die NS-Ideologie mit der deutschen Sprache gemacht? Heute lebt Urs Widmer in Zürich. Michael Kerbler hat ihn dort besucht.

Michael Kerbler: Herr Widmer, ich möchte unser Gespräch mit einem Zitat beginnen von Friedrich Dürrenmatt in seiner berühmten Laudatio im Jahr 1990 mit dem Titel "Ist die Schweiz ein Gefängnis?". Da kommt der Satz vor "Vom Schicksal verschont zu werden ist weder Schande noch Ruhm, aber es ist ein Menetekel". Haben Sie den Eindruck, dass 18 Jahre nach diesem Satz dieser sich wirklich erfüllt? Diese selbstgewählte Isolation, in der die Schweiz sich befindet, das Inseldasein - von dem Sie einmal gesprochen haben?
Urs Widmer: Nun, ich denke, unsere Welt ganz allgemein ist mehr und mehr mit Menetekeln zugestellt. Die vier apokalyptischen Reiter reiten ja schon recht sichtbar herum. Und ich weiß jetzt so wie Sie fragen nicht unbedingt, ob das ein schweizerisches Problem ist. Natürlich sitzt die Schweiz mitten drin, weil sie auch eine ökonomische Macht ist, und natürlich hängt diese Macht zum Teil auch mit unserer Geschichte zusammen, die uns nolens volens in zwei Weltkriegen zu so etwas wie Profiteuren gemacht hat. Beide Weltkriege haben der Schweiz einen tüchtigen ökonomischen Schub gegeben. Und es ist natürlich zu einfach, das dann als allgemeines Kriegsgewinnlertum abzutun, so war es dennoch. Dürrenmatt sagte ein anderes schönes Wort: "Es ist unmöglich, in einer unreinen Zeit sich rein zu verhalten". Und ich gebe das doch auch zu bedenken. Es war nicht einfach, sich im Zweiten Weltkrieg und danach rein und lauter zu verhalten. Und immerhin - ich habe mich sogar auf der Diskussions- und Theaterebene an dieser Diskussion heftig beteiligt - hat die Schweiz sehr zögerlich und krächzend und mühsam dann doch einiges getan für die sogenannte Bewältigung der Schuld von damals.

Aber die Schweiz hat nicht - wie Frankreich oder Deutschland - 1968 damit angefangen. Es hat ein bisschen länger gedauert. Die Schweiz hat 1968 sozusagen als Kontrapunkt den "Schweizer Goldpool" gegründet.
Die Schweiz hat immer eine Provinzverspätung von mindestens einer Generation. Oder jetzt schrumpft das langsam auf zehn Jahre runter. Das ist in der Tat so, die Schweiz hat sich 1968 wenig gerührt. Und das auch hier viel gefeierte oder hinterfragte 68 hat in der Schweiz nicht die bedeutsame Rolle gespielt, die es in Frankreich, in Deutschland oder dann auch in Amerika oder sogar in Japan gespielt hat, und einigermaßen ein bisschen auch in Österreich.

Hör-Tipps
Im Gespräch, Donnerstag, 15. Mai 2008, 21:01 Uhr

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Gedanken, Sonntag, 18. Mai 2008, 13:10 Uhr

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