Musik hat ganz besondere Wirkung

Der einarmige Pianist

In seinem neuesten Werk legt der Neurologe Oliver Sacks seine Erkenntnisse darüber dar, wie das Gehirn Musik verarbeitet. Musik, so zeigt Sacks, hat die einzigartige Kraft, das Gehirn in ganz bemerkenswerter und komplexer Weise zu verändern.

Musik sagt nichts, funktioniert nicht in Begriffen und man braucht sie nicht zum Leben. Sie ist nichts weiter als klingende Luft. Die Klänge sind flüchtig, leben immer nur gerade so lange wie sie tönen. Musik ist pure Gegenwart. Andererseits: Musik ist für viele Menschen etwas Unverzichtbares. Sie berührt, stiftet Gemeinschaft, erleichtert das Marschieren genauso wie weiland die Arbeit in den Baumwollfeldern. Heute terrorisiert sie gelegentlich durch ihre Allgegenwart.

Ihre Wirkung ist also nicht von vornherein gut oder schlecht, aber sie ist ein Medium, auf das die meisten Menschen ansprechen - auf besondere Weise kranke Menschen, wie Oliver Sacks in seinem neuen Buch beschreibt. Wobei wir uns vorstellen müssen, dass der amerikanische Neurologe an dieser Stelle sanft, aber bestimmt protestieren würde. "Krank" ist für ihn ein viel zu negativ behafteter Begriff, noch dazu mit eingeschränkter Aussagekraft, denn der Status krank ist nur eine Seite der Medaille. Neben dem Defekt existiert auch fast immer ein Gewinn, zumindest die Chance auf einen Gewinn.

Oliver Sacks mag Begriffe wie normal, unnormal, Standard, abweichend nicht. "Die Schönheit der Chemie ist die Beständigkeit. Ein Metall ist immer gleich. Jedes Atom ist dasselbe. Die Schönheit der Biologie ist das Gegenteil: ihre Vielfalt, ihre Veränderungen", so Sacks im Gespräch. "Farbblindheit oder Taubheit ist nicht nur Krankheit oder Beeinträchtigung, sondern sie können auch die Möglichkeit für ein anderes Leben eröffnen".

Kompositionen für die linke Hand

Der 75-Jährige, der gerade eine Professur an der Columbia University angenommen hat, schreibt über Menschen, die sich an jeden Klang aus über 1.000 Opern erinnern, aber mit einem IQ von 60 kaum selbstständig leben können; über Menschen, die sich von Musik-Ignoranten zu Musikbesessenen wandeln, nachdem ihr Gehirn vom Blitz getroffen wurde; über Menschen, die von innerlich tönenden Symphonien gepeinigt werden. Er schreibt über Anfallsleidende, Tourette-Patienten, Blinde, Amusische, Alzheimer- und Demenzkranke.

Und auch den einarmigen Pianisten, ein nur vier Seiten langes, aber Titel gebendes Kapitel in Sacks' neuem Buch, gab es wirklich. Es handelt von Paul Wittgenstein, dem Bruder des Philosophen Ludwig, Spross einer wohlhabenden Wiener Familie. Da er im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, seiner Pianisten-Karriere aber treu bleiben wollte, ließ er sich von berühmten Komponisten, unter anderem auch von Maurice Ravel, Stücke für die linke Hand schreiben.

Nur kein Standardmodell Mensch

Sacks' Fallgeschichten wirken meist amerikanisch leicht, undramatisch, geschrieben in einer Haltung des freudigen Erstaunens über die Vielfalt von Varianten, die die menschliche Spezies hervorbringt. Aber der Autor hat durchaus auch registriert, dass die Gesellschaft seine Vorliebe für menschliche Verschiedenartigkeit nicht unbedingt teilt.

"Ja, es sieht aus, als würde die Pädagogik heute einen anderen Weg gehen", meint er, "als hätten die Pädagogen heute einen mechanischen Menschenbegriff: Immer soll der Beste seiner Art ermittelt werden. Weise Lehrer waren sich immer der großen Unterschiede zwischen den Menschen bewusst und dass ein Schüler die Chance erhalten muss, sich autonom zu entwickeln, eine Chance, seinen eigenen Weg zu gehen."

Kommunikation mit Musik

Für viele Patienten des Neurologen Oliver Sacks ist Musik der einzige Kanal, über den sie mit Anderen kommunizieren können; für einige ist Musik die Rettung; für andere die Brücke zurück ins Leben, das sie vorher geführt haben. Musik ist - und das macht Sacks hier klar - eine wissenschaftlich noch nicht ergründete Wundertüte: Sie kann Heilmittel sein, aber auch das Symptom einer Krankheit. Zum Beispiel erzählt Sacks von einem Epileptiker, der stets Musik im Kopf hatte, bevor er - von Krämpfen geschüttelt - zu Boden ging.

Was den Aspekt Musik als Heilmittel angeht, so sind Sacks Erläuterungen über Alzheimer und andere Demenzerkrankungen spektakulär. Der Verlust des Gedächtnisses schließt Demenzkranke in ein Leben purer Gegenwart ein. Oliver Sacks beschreibt nun, wie die häufig alten Menschen unter der Anleitung einer Musiktherapeutin am Ende nur noch eines können: musizieren oder singen. Ihres Verfalls gewahr, sind sie häufig apathisch, traurig, unerreichbar. Aber eines bleibt, besonders den musikalisch Gebildeten unter ihnen: die Freude, sich an einen Teil ihrer Vergangenheit und früher erworbene Fähigkeiten zu erinnern. So kann einer, der seinen Namen nicht mehr weiß, trotzdem noch komplizierte Partituren vom Blatt spielen.

Ein eigenes Gehirnareal

Das Gehirn, so Sacks' Schlussfolgerung, hat eine gesonderte Repräsentanz für musikalische Fähigkeiten, ein Areal, das sich gegenüber den Verwüstungen altersbedingter Krankheiten robuster behauptet als beispielsweise das Sprachzentrum. Und das sogar entsprechend wächst, wenn die Bereiche für sprachliche oder visuelle Fähigkeiten nicht mehr beansprucht werden.

Musiktherapeuten, von denen es allein in Deutschland übrigens stolze 3.000 gibt, arbeiten nicht nur mit Demenzkranken, sondern auch mit Magersüchtigen, mit entwicklungsverzögerten Kindern und Depressiven, mit Parkinson-Kranken, mit Wachkomapatienten und Menschen, die einen Schlaganfall erlitten haben.

Seit der Erfindung Bild gebender Verfahren in den 1980er Jahren wie der Kernspintomographie, hat die Musiktherapie einen Entwicklungsschub erlebt, denn seither kann man verfolgen, was in den Gehirnen lebender Menschen vor sich geht. Und die Gehirne von Musikern, schreibt Sacks, sind einzigartig und sofort als solche zu erkennen.

Ein Hoch auf die Andersartigkeit
Wie Sacks Ersterfolg "Awakenings", einer später verfilmten Geschichte über die Opfer der Schlafkrankheit, oder "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte", gesammelte Fallgeschichten über Menschen, die mit einem Mal aus der Normalität fielen, ist auch "Der einarmige Pianist" ein Buch, dessen größter Verdienst die Rehabilitation des unperfekten, des fehlerhaften Menschen ist. Rehabilitation, weil Sacks sich über jede Andersartigkeit zu freuen scheint. Nun mag man einwenden, es sei sein Geschäft. Aber es gibt mehr Wissenschaftler, die mit der medikamentösen oder chirurgischen Standardisierung des Menschen Geschäfte machen. Oliver Sacks zollt seinen besonderen Patienten Respekt. Er will sie nicht anpassen. Er will höchstens ihr Los erleichtern. Diese Haltung sucht in einer Zeit zunehmenden Perfektions- und damit Uniformitätsdrucks ihresgleichen.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Oliver Sacks, "Der einarmige Pianist", Rowohlt Verlag

Link
Rowohlt Verlag - Der einarmige Pianist