Neurowissenschaften und Philosophie

Moral

Nachdem die Frage nach Gut und Böse lange Zeit hauptsächlich Philosophen und Theologen beschäftigt hat, ist sie in den vergangenen Jahrzehnten zum Dauerbrenner der Naturwissenschaften und der experimentellen Psychologie geworden.

Neurowissenschaften, Verhaltensbiologie, experimentelle Psychologie und auch experimentelle Ökonomie haben in den letzten Jahren auf unterschiedlichste Weise versucht, zu erklären, weshalb sich der Mensch verhält, wie er sich verhält, auf welchen Grundbedingungen die Verhaltensregeln einer Gesellschaft ausbauen können. Viele der jüngeren Erkenntnisse scheinen an den Grundfesten unseres Selbstverständnisses zu kratzen. Vor allem jene Erkenntnisse, die aus der Hirnforschung kommen.

Laut dem Philosophen Thomas Metzinger werden die Neurowissenschaften wichtige neue Informationen über die biologischen Grundlagen moralischen Empfindens liefern. Ob eine Handlung richtig ist, was eine Handlung schließlich zu einer guten oder schlechten Handlung macht - darüber kann die Naturwissenschaft jedoch mit Sicherheit nichts sagen. Denn daraus, wie die Natur des Menschen ist, leitet sich noch lange nicht automatisch ab, wie der Mensch sein soll. Was sich allerdings ableiten lässt, ist, wie der Mensch sein kann.

Die Rolle der Gefühle

Die entscheidende Rolle der Gefühle betont seit langem der Neurologe Antonio Damasio. Wie kaum ein anderer versucht er, die Untrennbarkeit von Fühlen und Denken zu beweisen. Emotionen beeinflussen das Bewusstsein, lautet sein experimentell untermauertes Credo - und zwar über den Umweg von Gefühlen. Emotion und Gefühl sind für ihn zwei verschiedene Dinge, wie er schon in seinen beiden in den 1990er Jahren erschienenen Büchern "Descartes Irrtum" und "Ich fühle, also bin ich", ausführlich beschrieb.

Emotionen sind für Damasio die rein physiologischen Reaktionen auf irgendeinen Reiz oder Trieb. Furcht zum Beispiel kann die Herzfrequenz verändern. Diese veränderte Herzfrequenz wird immer die Reaktion auf einen Reiz, der Furcht auslöst, sein. Dazu, dass diese Reaktion aber als Furcht auch wahrgenommen wird, bedarf es des Gefühls, dieser inneren Empfindung dessen, was passiert.

"Ein paar unserer neuesten Arbeiten zeigen, wenn Sie ein bestimmtes Gefühl haben, gibt es einige Strukturen im Gehirn, die zum Beispiel auf den Zustand des Herzens, oder der Lunge, oder des Magens achten, die auf die Chemie dort achten. Was Sie fühlen, ist der zustand Ihres Organismus. Wenn Sie also sagen, dass Sie sich glücklich oder traurig fühlen, sagen Sie eigentlich, mein Hirn repräsentiert dies und jenes in meinem Körper. Und das Gefühl ist die mentale, private Repräsentation des Körperzustands", erklärt Damasio.

Diese Repräsentationen im Gehirn sind so etwas wie die Vorstellung dessen, was physiologisch im Körper passiert - über den Zwischenschritt von unterschiedlich aktivierten Nervenzellen, die diese mentalen Bilder irgendwie generieren. Und genau diese Bilder sind es, die letztendlich nötig dafür sind, Bewusstsein zu generieren.

Erklärung und Erfahrung

Eines Tages werde man die biologischen Grundlagen dieser mentalen Bilder verstehen und sie ebenso messen und analysieren können wie wir das heute schon mit den Aktivitäten der verschiedenen Nervenzellen im Gehirn machen können, gab sich Antonio Damasio noch vor wenigen Jahren überzeugt.

Dennoch, von einem biologischen Reduktionismus wollte der Neurologe nichts wissen, denn schließlich gelte es doch nach wie vor eine wichtige Unterscheidung zu machen. "Natürlich muss man einen klaren Unterschied machen zwischen der Erklärung, wie etwas funktioniert, und der Erfahrung dessen, da stimme ich völlig zu. Erfahrung ist etwas sehr spezielles und individuelles. Die Aufgabe der Wissenschaft ist, herauszufinden, wie Dinge funktionieren, was sind die Mechanismen, die Vorgänge hinter einem Phänomen."

Dieser Blick von innen, der Unterschied von Erlebtem und Erklärtem ermöglicht schließlich auch einen gewissen Freiheitsgrad, so meint zumindest Antonio Damasio - trotz biologischer Vorherbestimmtheit und Festgefahrenheit

"Im Blick auf viele Gefühle glaube ich, dass sie zum Großteil vorherbestimmt sind. Sie haben also ein bestimmtes Repertoire an Emotionen und ein bestimmtes Repertoire an Gefühlen. Aber die Art, wie wir Gefühle mit bestimmten Objekten verbinden, bleibt ganz uns selbst überlassen. Also selbst wenn unsere Gefühle bei verschiedenen Individuen recht ähnlich sind, die Art, wie wir Gefühle mit bestimmten Situationen, mit bestimmten Objekten verbinden, ist ganz allein unsere eigene Sache. Ich denke, wir haben diese enorme Freiheit, uns Selbst, unsere Biographie auf eine bestimmte Weise zu konstruieren."