Ein ehemaliger Clown zieht Bilanz

Das Leben ist nicht gut

Ein Pflegeheim für behinderte, alte und demente Menschen. Ein alter Mann dort wartet - auf das Taschegeld, das Essen und auf Besuch. Aber es kommt niemand. Er liegt am Bett und denkt über sein Leben nach. An der Tür hängt eine Clownnase.

Ich errege sein Interesse mit meinem Mikrofon, er meines mit "I love you for sentimental reasons", das er unaufgefordert hineinsingt. "Gut wie Louis Armstrong", lobt er sich selbst und die Pflegerin erklärt: "Er war einmal ein Clown."

Eine Reportage über Pflegegesetze hat mich hier nach Schloss Haus geführt, einer Betreuungseinrichtung des Landes Oberösterreich. Hier wohnen psychisch und körperlich kranke, behinderte, alte und demente Menschen sowie Personen, die sonst verwahrlosen würden.

Clown August im Pflegeheim

"Ich war mein Leben lang beim Zirkus, von einer Stadt zur anderen", sagt Alois P., der sich lieber als Clown August präsentiert. "In der Nacht träume ich davon und wenn ich munter werde, dann sehe ich: Gar nichts ist da. Das ist schon schwer."

Seine Augen sind wässrigblau und die breiten, aber kurzen Brauen wirken wie aufgeklebt. Der Nasenrücken ist etwas eingedrückt und das rötlich-braune, nur an den Koteletten ergraute Haar ordentlich zurückgekämmt. Frisch rasiert, frisches Hemd: Bei all unseren Treffen vergisst er nicht, mich darauf hinzuweisen.

Das Leben war schön, aber schwer

Bereitwillig setzt er sich mit mir an den Tisch in der Mitte seines Drei-Bett-Zimmers und streicht das rosa Deckerl zurecht - "Haben sie auch schön gestickt, gell?" - erhebt sich wieder, stützt sich auf und gibt ein Ständchen zum Besten.

Ich nehme auf und applaudiere, er seufzt: Das Leben ist nicht gut, er bittet mich um Geld, ich hole Kaffee aus dem Automaten, wir verbringen Stunden zwischen Hustenden im Raucherzimmer und keine einzige im sonnigen Schlosspark. Er fragt mich nach meinen Familienverhältnissen, ich ihn nach seinen, er spricht von der Schönheit seiner Mutter, ich frage ihn nicht nach dem Resümee seines Lebens, er sagt: "Mir tut's leid, dass ich auf die Welt gekommen bin, ich hab kein gutes Leben gehabt."

Ich bemühe mich, mir seine Biografie durch Fragen lückenlos zu erschließen - und scheitere daran. Er erzählt vom Zirkus, als wäre es erst gestern gewesen und doch durfte er nur in seiner Kindheit den Dummen August geben. Dass er vor der Ankunft im Pflegeheim wieder ein Herumziehender war, diesmal auf den Straßen und Plätzen der Landeshauptstadt, erzählen mir die Pfleger lieber als er selbst. Aber was lag zwischen Zirkus und Obdachlosigkeit?

Erst beim Transkribieren der stundenlangen Gespräche fällt mir auf, dass nicht nur er, sondern vor allem ich selbst bisher der Frage ausgewichen war, die die Lücke in seinem Lebenslauf schließen könnte. Und ich fahre ein letztes Mal zu ihm.

Hör-Tipp
Hörbilder, Freitag, 25. Dezember 2009, 9:05 Uhr

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