Ars morendi

In die Sonne schauen

"Es ist nicht leicht, jeden Augenblick in vollem Bewusstsein des Todes zu leben. Das ist so, als versuche man, der Sonne ins Gesicht zu schauen", schreibt der Psychoanalytiker Irvin D. Yalom in seinem Buch, das uns die Angst vor dem Tod nehmen soll.

"Leben heißt sterben lernen", wussten die alten Stoiker. Ars morendi - die Kunst zu sterben, gar nicht so leicht, sich ihr mit der von den Stoikern geforderten Gelassenheit zu widmen. Zu allen Zeiten, an allen Orten hat die Unausweichlichkeit des Todes die Menschen geängstigt. Auch der amerikanische Psychoanalytiker Irvin D. Yalom kennt die Angst vor dem Tod aus eigenem Erleben.

Unsere Konfrontation mit dem Tod wird stets von Furcht begleitet sein. Auch ich spüre sie jetzt, während ich diese Worte schreibe; sie ist der Preis, den wir für die Bewusstheit unserer selbst zahlen.

Schlag nach bei Epikur

"Wie man die Angst vor dem Tod überwindet" - es ist ein bisschen viel, was Irvin D. Yalom im Untertitel seines neuen Buchs verspricht. Der emeritierte Stanford-Professor für Psychiatrie kann dieses Versprechen natürlich nicht einlösen, dennoch ist "In die Sonne schauen" ein vielschichtiges, ein erstaunlich inspirierendes Buch über eine der Urängste des Menschen: die Angst vor dem Tod, anders gesagt, die uns allen innewohnende Angst vor dem Nichts.

Immer wieder bezieht sich Yalom in seinem Buch auf einen der großen Denker der Antike: auf Epikur. Im Gegensatz etwa zu Sokrates glaubte Epikur nicht an ein Weiterleben der Seele nach dem Tode. Die Seele, so der hellenistische Philosoph, vergehe zusammen mit dem Körper.

Wenn wir sterblich sind und die Seele nicht überlebt, argumentierte Epikur nachdrücklich, dann haben wir in einem Leben nach dem Tode nichts zu fürchten. Wir werden kein Bewusstsein mehr haben.

Nach dem Tod ist wie vor der Geburt

"Bin ich, ist der Tod nicht. Ist der Tod, bin ich nicht." So lautet Epikurs berühmtes Diktum. Der athenische Materialist brachte aber einige weitere Argumente vor, die geeignet sind, des Menschen Todesfurcht zu lindern. Eines seiner stärksten: Der Zustand nach dem Tod wird der gleiche sein wie der vor unserer Geburt. Ein Gedanke, den Irvin D. Yalom immer wieder einbringt in seinem Buch. Stellt sich bloß die Frage: Warum fürchten wir uns so sehr vor dem Meer aus Dunkelheit, das vor uns liegt, während wir dem hinter uns liegenden so vergleichsweise gleichmütig gegenüberstehen? Eine Frage, auf die auch Yalom keine rechte Antwort weiß.

In früheren Büchern hat der Bestsellerautor aus Stanford sich unter anderem mit den Philosophien Nietzsches und Schopenhauers auseinandergesetzt. Auch in Sachen Todesangst findet Yalom Trost bei den Großen der abendländischen Philosophie.

Schopenhauer und Henri Bergson zum Beispiel dachten an menschliche Wesen als individuelle Manifestationen einer allumfassenden Lebenskraft - der "Wille" oder der "élan vital" -, in die eine Person nach dem Tod wieder eingehen wird.

Im Zustand der Bewusstlosigkeit

Die moderne Anästhesie übrigens - auch darüber schreibt Yalom - vermag uns einen plastischen Vorgeschmack des Todes zu geben: in der Narkose, wenn unser Bewusstsein vorübergehend erlischt. Der Rezensent hat sich der temporären Todeserfahrung des Anästhesierten vor einigen Jahren, aus Anlass einer harmlosen Knie-Operation, im Selbstversuch gestellt. Sein Resümee: gar nicht so schlimm, der Zustand der Bewusstlosigkeit.

Nur: Der Übergang ist das Problem. Hätte der Rezensent vor seiner Narkotisierung gewusst, dass er das Licht der Sonne nimmermehr erblicken würde, er hätte das Ganze wohl etwas weniger locker genommen. Soll heißen: Tot sein ist leicht, im Sterben liegt die Kunst.

Wie ein Weckruf

So sehr uns das Wissen um unsere Vergänglichkeit auch mit Grauen erfüllt: Die Gewissheit des nahenden Todes kann auch ein Weckruf sein, schreibt Yalom, ein Katalysator, der tiefgreifende Veränderungen im menschlichen Leben hervorzurufen vermag. Viele Jahre lang hat Yalom, einer der Pioniere der Gruppentherapie, Selbsterfahrungsgruppen mit schwerkranken Menschen moderiert.

Während meiner über zehnjährigen Arbeit mit Krebspatienten, die sich dem Tod gegenübersahen, stellte ich fest, dass viele von ihnen eine positive, drastische Wandlung durchmachten, statt betäubter Verzweiflung zu unterliegen. Sie setzten ihre Prioritäten neu, trivialisierten die Banalitäten des täglichen Lebens. Sie waren auf einmal imstande, Dinge nicht zu tun, die sie nicht wirklich tun wollten. Sie kommunizierten mit denen, die sie liebten, intensiver und wussten die elementaren Tatsachen des Lebens stärker zu schätzen – die wechselnden Jahreszeiten, die Schönheit der Natur, das letzte Weihnachten oder Neujahr. Einer meiner Patienten sagte zu mir: "Wie schade, dass ich bis jetzt warten musste, bis mein Körper vom Krebs zerfressen worden ist, um leben zu lernen!

Leben lernen

Irvin D. Yalom thematisiert auch eigene Todesängste. Als einer, der in drei Jahren 80 wird, hat er auch allen Grund, sich mit der Frage seines Todes zu beschäftigen, schreibt er. Was gibt Yalom Trost? Die Liebe zu seiner Frau, seinen Kindern, seinen Enkeln, die Verbundenheit mit seinen Freunden, das Bewusstsein, ein erfülltes Leben gelebt zu haben und immer noch zu leben.

Yalom plädiert dafür, dem Tod bewusst ins Auge zu sehen, sich mit ihm vertraut zu machen, ihn zum Gegenstand intensiver Analysen, vielleicht auch Meditationen zu machen. In Umkehrung des alten stoischen Diktums könnte man auch sagen: Sterben lernen heißt leben, intensiv leben.

Dies soll kein düsteres Buch sein. Stattdessen ist meine Hoffnung, dass wir durch Begreifen, echtes Begreifen, unseres menschlichen Daseinszustandes - unserer Endlichkeit, unserer kurzen Zeit im Licht - nicht nur dahin kommen werden, die Kostbarkeit jedes Augenblicks auszukosten, sondern auch unserer Mitgefühl für uns selbst und unsere Mitmenschen zu vertiefen.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Irvin D. Yalom, "In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet", aus dem Englischen übersetzt von Barbara Linner, btb-Verlag