Prachtband zu Claude Lévi-Strauss' 100. Geburtstag

Traurige Tropen

Am 30. Oktober starb mit Claude Lévi-Strauss einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts. In seinem letzten Buch erzählte er ausgiebig über seine oft beschwerlichen Reisen zu den Ureinwohnern Brasiliens und von seinen Forschungen Ende der 1930er Jahre.

Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende.

Dieses seltsame Bekenntnis ist der erste Satz in Claude Lévi-Strauss' Buch "Traurige Tropen." Lévi-Strauss gehört zu den wenigen Ethnologen, die über wissenschaftliche Fachzirkel hinaus Berühmtheit erlangt haben. Und dass der Autor weltweit bekannt ist und man mannigfach seinen 100. Geburtstag begehen wird, hängt viel mit dem Buch "Traurige Tropen" zusammen. Er erzählt darin ausgiebig über seine oft beschwerlichen Reisen zu den Ureinwohnern Brasiliens, zu den Indio-Stämmen, und von seinen Forschungen Ende der 1930er Jahre. Aber weswegen kann er dann behaupten, er verabscheue das Reisen und die Forschungsreisenden?!, wird man sich zu Recht fragen.

Nur keine Missionare!

Auf den ersten Blick geht Lévi-Strauss wie ein klassischer Völkerkundler an seinen Gegenstand heran: Er beobachtet außereuropäische schriftlose Stämme, also "Ur-Einwohner". Aber dann ändert sich sein Blick des Interesses um 180 Grad: Er möchte keineswegs - wie die Vertreter der Kirche - diese Stämme missionieren. Missionierung bedeutete ja nicht nur die Übermittlung der frohen Botschaft vom auferstandenen Jesus Christus, sondern auch die zwangsweise Verabreichung europäischer Werte und Verhaltensnormen.

Ebenso die Vertreter der Aufklärung sind für Lévi-Strauss Missionare. Das Licht des Denkens - das herrliche Subjekt, das sein Wissen, Meinen und Dafürhalten um sich zentriert hält - ist etwas, das man be-greifen und daher annehmen muss. Lévi-Strauss verabscheut diese zwei Typen der "Forschungsreisenden", weil sie Stämme und Volksgruppen von sich selbst entfremden, indem sie ihnen europäische Denk- und Lebensstrukturen überstülpen.

Aus der Fratze des Wilden, des Fremden, des Anderen entsteht durch Erziehung, also gleichsam im Spiegel eines Tugend- und Gebotekanons, das Bildnis eines humanen, christlichen und aufgeklärten Menschen.

Das System des Strukturalismus

Natürlich ist schon vor Claude Lèvi-Strauss die zwanghafte Europäisierung fremder Kulturen durch aufmerksame Ethnologen und andere Forscher kritisiert worden, aber Lévi-Strauss tut dies als erster mit einer eigenen Methode, die Erfolg verspricht.

Das Buch "Traurige Tropen" erzählt von vielem. Es erzählt auch von den Jahren, in denen der Jude Lévi-Strauss von den Nazis in Frankreich verfolgt wird, es ihm aber rechtzeitig gelingt, sich in die USA abzusetzen. Dort lernt er Roman Jacobson kennen, der mit Ferdinand de Saussure den sprach- und auch literaturwissenschaftlichen Strukturalismus begründet. Sprache wird als ein System von Zeichen, ein System von Beziehungen angesehen, das unabhängig von einer jeweiligen Sprechergruppe betrachtet werden kann.

Im Strukturalismus gibt es keine Sprache und keine Gruppe von Sprechern, die besser, "hoch stehender" wäre als eine andere. Dieses wissenschaftliche System schreibt Lévi-Strauss für seine ethnologischen Studien um. In einem seiner großen Hauptwerke, die vierbändige "Mythologica", verfasst in den Jahren von 1964 bis 1971, beschreibt er über 800 süd- und nordamerikanische Mythen, die natürlich auch Relevanz für die europäische Mythologie haben. Es geht aber um die Strukturen der einzelnen Mythen, die Verwandtschaft, die sie untereinander ausbilden, um die Bildstärke, durch die sie wiederum das Leben der Menschen mitstrukturieren. Das heißt nach Lévi-Strauss: Nicht der Mensch formt seine Mythen, sondern die Mythen formen den Menschen.

"Es denkt"

Die "Mytholigica I - IV" liegen nun als Taschenbuchausgabe im Suhrkamp Verlag auf. Ebenso der Band "Der Blick aus der Ferne", der kleinere Aufsätze von Lévi-Strauss versammelt und etwa zeigt, wie Lévi-Strauss' den Überlegungen der Surrealisten oft nahestand. Beide ziehen gegen das große aufklärerische "Ich denke, also bin ich" zu Felde, und nehmen ein wesentlich unbewussteres "Es denkt" an, das - im Falle von Lévi-Strauss - auch den Wilden, den anderen Kulturen außerhalb Europas zur Verfügung steht.

Wer etwas mehr über Leben und Werk von Claude Lévi-Strauss erfahren möchte, der greife zu Thomas Reinhardts "Einführung", die als Taschenbuch im Junius Verlag erschienen ist. Kompetent, sachlich und mit klarer Sprache gibt Reinhardt Auskunft. Von einem Buch Lévi-Strauss' ist Reinhardt aber besonders angezogen: Es sind die "Traurigen Tropen":

Reisebericht, Essay, Roman, Zivilisationskritik, symbolistische Erzählung, intellektuelle Autobiografie - der Text ist so facettenreich, dass eine letztgültige Einordnung schwer, ja unmöglich ist. Dass "Traurige Tropen" neben all dem auch ein ethnographischer Text ist, gerät über diese Vielfalt bisweilen fast in Vergessenheit.

Schmuckausgabe mit 40 Gouachen

Aus Anlass des 100. Geburtstages von Lévi-Strauss hat der Suhrkamp Verlag die "Traurigen Tropen" in einer Schmuckausgabe mit 40 Gouachen des italienischen Malers Mimmo Paladino herausgebracht. Damit werden die "Traurigen Tropen" auch zu einem ästhetisch hochwertigen Buch, das auf so manchem Gabentisch nicht fehlen sollte.

Zudem sind viele Überlegungen von Lévi-Strauss von geradezu beängstigender Aktualität. So nimmt er im Vergleich der Weltreligionen den Islam als die radikalste Religion wahr: Sie kann den Anderen als anders Denkenden und Glaubenden nicht sein lassen. Der Andere, will er gesellschaftlich voll und ganz akzeptiert sein, muss sich zum Islam bekehren. Claude Lévi-Strauss sagt es nicht explizit, doch am Ende der "Traurigen Tropen" taucht vage das Bild einer Weltgemeinschaft auf, in der jeder mit jedem in Beziehung steht, aber auch die Welt als "global village" die den je Anderen in seiner Andersartigkeit akzeptiert, ja schätzt. Und genau an diesem Punkt, so der bald 100-jährige Autor, könnten wir nochmals und durchaus hoffnungsfroh mit unserer Arbeit beginnen.

Wenn die Menschen seit jeher nur eine einzige Aufgabe in Angriff genommen haben, nämlich eine Gesellschaft zu schaffen, in der es sich leben läßt, dann sind die Kräfte, die unsere fernen Vorfahren angespornt haben, auch in uns gegenwärtig. Nichts ist verspielt; wir können alles von vorn anfangen. Was getan wurde und gescheitert ist, kann noch einmal versucht werden: Das Goldene Zeitalter, das ein blinder Aberglaube vor (oder nach) uns ansetzte, ist in uns.

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Hör-Tipps
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Diagonal, Samstag, 15. November 2009, 17:05 Uhr

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Buch-Tipp
Claude Lévi-Strauss, "Traurige Tropen", Prachtausgabe, Suhrkamp Verlag