Irrationale Entscheidungen sind oft rational
Die Logik des Lebens
Tim Harford zählt zu den Behavioral Economists. Er bedient sich der Verhaltenspsychologie, um unser Verhalten als Ausfluss eines zutiefst rationalen ökonomischen Kalküls zu erklären - auch wenn vieles auf den ersten Blick irrational erscheint.
8. April 2017, 21:58
Tim Harford, Wirtschaftsjournalist bei der "Financial Times" in London, gehört zu einer neuen Generation von Ökonomen. Er wendet wirtschaftliche Betrachtungsweisen nicht nur auf die Handelsbilanz, die Supermarktpreise und den Kreditmarkt an, er betrachtet auch persönliche und alltägliche Bereiche unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dabei ist er zu dem Schluss gekommen: Menschen handeln logischer als man glaubt.
Umstrittene Sichtweisen
Die Rationalität von Handlungen oder von Verhalten zeigt sich oft erst auf den zweiten Blick. Ökonomen haben etwa herausgefunden, dass mehr Werbung für Nikotinkaugummi und Nikotinpflaster anscheinend Teenager zum Rauchen ermutigt. Das sei logisch, meint der Autor, denn Teenagern wird durch die Werbung die Botschaft vermittelt, es gebe ohnehin Hilfsmittel, um wieder aufzuhören. Nikotinsucht nimmt sich daher weniger riskant aus.
Das ist nur eines von vielen Beispielen in Tim Harfords Buch "Die Logik des Lebens." Die Sichtweise der neuen Ökonomen ist teils umstritten, wie der Autor im Gespräch bekennt: "Kontrovers wird es erst, wenn die Leute merken, dass Ökonomen ihre Analysemethoden nicht auf einfache finanzielle Transaktionen wie den Kauf eines Autos beschränken. Kosten sind nicht nur eine Frage von Geld. Zu den Kosten von Sex gehört auch das Risiko, sich mit AIDS zu infizieren. Und das 'Gesamtbudget' umfasst nicht nur Geld auf dem Bankkonto, sondern auch Zeit, Energie, Begabungen und Aufmerksamkeit."
Unbewusstes Rechnen
Noch ungeklärt, so der Autor, sei der Ablauf der Entscheidungsprozesse: "Es läuft etwa so ab: Wenn ich jemandem einen Tennisball zuwerfe, dann fängt er ihn automatisch. Aber wir wissen, dass die mathematische Gleichung zur Berechnung der Flugbahn des Balles sehr kompliziert ist. Das können nur wenige Leute. Und wenn sie es können, dann sind sie nicht schnell genug, um den Ball rechtzeitig zu fangen. Aber dennoch fangen wir Tennisbälle. Das heißt: Unser Gehirn rechnet, ohne dass es uns bewusst ist."
Zunehmender Oralsex
Glücksspiel ist nicht der einzige Bereich, den die meisten Leute als außerhalb der Rationaltät stehend betrachten. Auch Sex und Logik gelten nicht als natürliche Paarung. Ein Bericht aus dem Jahr 2004 über das Sexualverhalten von jungen Leuten zwischen 12 und 24 Jahren führte in den USA zu einem Sturm moralischer Entrüstung. Unerwartet viele Teenager waren mit Oralsex vertraut. Die Talkshow-Diva Oprah Winfrey klagte, eine Oralsex-Epidemie sei ausgebrochen.
Tim Harford ist zu einem anderen Schluss gekommen. Die Teenager seien nicht verlottert, sondern recht klug: "Das ist keine Epidemie von Oralsex, sondern von Safe Sex. Es stimmt, dass Teenager mehr zu oralem Sex neigen; außerdem verwenden sie mehr Kondome. Vor 15 Jahren war die Pille das bevorzugte Verhütungsmittel, jetzt sind es Kondome. Weiters haben Teenager weniger Sex und verlieren ihre Jungfräulichkeit etwas später. Wenn man nun diese drei Trends zusammengenommen betrachtet, dann liegt hier, wie gesagt, keine Oralsex-, sondern eine Safe-Sex-Epidemie vor. (...) Ich meine, diese Entwicklung ist eine rationale Reaktion der Teenager auf mehr Information über Aids."
Wie ein Tennisturnier
Tim Harford weiß auch eine Erklärung für ein Phänomen, das gerade angesichts der Wirtschaftsmisere die Gemüter erregt: die astronomischen Bonuszahlungen an Spitzenmanager, die Milliardenverluste geschrieben haben und deren Unternehmen nur dank Finanzspritzen des Staates überleben. In den USA hat sich sogar Präsident Barack Obama kürzlich darüber geärgert. Tim Harford erklärt die Logik hinter dem Bonussystem:
"Die Turniertheorie besagt, dass die Leute auf ihrem Arbeitsplatz oft wie die Spieler in einem Tennisturnier entlohnt werden. Tennisspieler werden nicht dafür bezahlt, dass sie ein hochklassiges Spiel spielen, sondern dass sie ihren Gegner besiegen. Ganz ähnlich verhält es sich in Unternehmen: Viele werden nicht danach bezahlt, weil sie besonders viel verkauft oder etwas besonders gut gemacht haben, sondern dafür, dass sie im Vergleich zu anderen in der gleichen Position die Besten sind. (...) Es ist wie bei einem Wettbewerb, bei dem jeder in der Firma gegen jeden kämpft. Es gibt gute Gründe für diese Strategie. Damit lassen sich Leute gut motivieren. Damit zeigt man nämlich: Seht her, selbst wenn es dem Unternehmen wirtschaftlich nicht so gut geht, werden die besten Mitarbeiter dennoch gut bezahlt. Das würde man bei Tennisspielern genauso machen, sie bekommen ihr Geld auch bei Wind und Regen, trotz des schlechteren Spielniveaus."
Studien haben ergeben, dass ein solches Turniersystem tatsächlich motivierend wirkt. Die Leute arbeiten länger und gehen seltener in Krankenstand. Allerdings herrscht auch weniger Kooperation und Hilfsbereitschaft. "Wenn man im Rahmen der Turniertheorie jede hierarchische Stufe in einer Firma als eine Turnierrunde betrachtet, nach der Leute befördert werden und immer tollere Preise bekommen", meint Harford, "dann entspricht das Gehalt der Person an der Spitze sozusagen dem großen Preis für den Turniersieg. Wer dort angelangt ist, braucht nichts mehr zu machen. Das Gehalt und die Privilegien für einen Vorstandsvorsitzenden sind dazu da, alle anderen auf den unteren Stufen der Pyramide zu motivieren."
Neue Anreize
Handlungen und Prozesse werden verständlicher, wenn man annimmt, dass ihnen Rationalität zugrunde liegt, plädiert Tim Harford für seine Sichtweise. Wenn Teenager in den Slumvierteln der USA dauernd die Schule schwänzen, hilft es nicht weiter, sie als irrational abzutun. Zielführender ist, mehr über ihren Anreiz zu erfahren und diesen durch einen neuen zu ersetzen, der sie in die Schule zurückführt.
"Gesellschaftspolitisch heißt das, wir sollten mehr Respekt für die Entscheidungen anderer aufbringen", so Harford. "Natürlich machen Leute Fehler und Dummheiten, doch wir sollten jemanden nicht so schnell verurteilen, bloß weil eine Handlung oder ein Verhalten für uns keinen Sinn ergibt. Wir sollten uns genauer ansehen, warum andere etwas machen. Worin besteht der Anreiz für ihr Verhalten? Wenn uns das klar ist, finden wir deren Verhalten vielleicht gar nicht mehr so dumm."
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Tim Harford, "Die Logik des Lebens. Warum Ihr Boss überbezahlt ist, Oralsex boomt und New Orleans nicht wieder aufgebaut wird - Die rationalen Motive unserer scheinbar irrationalen Entscheidungen", aus dem Englischen übersetzt von Richard Barth, Verlag Riemann
Link
Riemann - Die Logik des Lebens