Weibliche Pracht

Vulva

In ihrem Buch zeichnet die in Düsseldorf lebende Autorin Mithu M. Sanyal eine Kulturgeschichte der Vulva. Dabei untersuchte sie die Darstellung des weiblichen Genitals in Alltag, Folklore, Medizin, Mythologie, Literatur und Kunst.

Als Teenagerin, erzählt Mithu Sanyal in ihrem Buch, wurde ihr eines Tages bewusst, dass sie ihre eigene Vulva noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie wusste nicht, wie sie aussieht. Sie betrachtete sie also im Spiegel und stand vor einem weiteren Problem: Sie konnte das, was sie sah, nicht beurteilen. Sie hatte schlicht keinen Vergleich.

In einer Bücherei erwartete sie sich letztendlich Tausende Seiten, die ihr die Vulva erklären würden, stattdessen fand sie nur ein einziges Buch, mit dem Titel "Die Vagina und ihre zahlreichen Erkrankungen."

"Da unten"

Als die Autorin 20 Jahre später zur Kulturgeschichte der Vulva forschte, fand sie erst einmal nichts. Über die weibliche Scham wurde kaum gesprochen, kaum geschrieben und noch viel weniger überliefert. Wenn Mithu Sanyal dann eine Ausgabe der Zeitschrift "Women" aus dem Jahre 2006 zitiert, in der selten von Vagina, Scheide oder Vulva die Rede ist, sondern meistens von "da unten" und "zwischen den Beinen", spätestens dann wird einem bewusst, dass sich so viel nicht geändert hat.

"Das Faszinierende daran ist ja, dass die Vulva nicht nur tabuisiert wird, sondern dass die Tatsache, dass sie tabuisiert wird, bereits tabuisiert wird", so Mithu Sanyal im Gespräch. "Das heißt: Wir merken wirklich noch nicht einmal, dass wir nicht darüber nachdenken und das ist das Perfide daran."

Beschreibungen aus Männersicht

Was das weibliche Genital und seine Bedeutung betrifft, schreiben die prägenden Denker des Abendlandes von der Antike bis in die Moderne im Kanon:

Nach Aristoteles verfügte nur der Mann über genug Energie, um vollständige Geschlechtsteile zu entwickeln. Galen sah das weibliche Genitale als invertiertes männliches Genitale. Und Sigmund Freuds Haltung kann man auf die Formel bringen: Man nehme einen Menschen - also einen Mann - entferne den Penis und erhalte so eine Frau. Auch aktuellere Theoretiker wie etwa Jean Baudrillard und Roland Barthes erklären, wenn sich Frauen öffentlich entkleiden, wie etwa beim Striptease, könnten sie dabei nicht ihr Geschlecht, sondern einzig und allein ihren Mangel enthüllen, sprich das Fehlen eines Phallus.

Entweder - bemerkt die Kulturwissenschaftlerin Sanyal - wird das weibliche Geschlecht in der Geschichte als Leerstelle, als Loch, als unbedeutend und ungenügend beschrieben, oder aber als Tor zur Hölle, klaffender Abgrund, Quelle allen Zwists und Ärgers auf der Welt und möglicher Untergang des Mannes.

Die eindringlichste Illustration dafür ist die mit spitzen, blutbeschmierten Zähnen bewaffnete Vagina, die derart oft in Mythen und Legenden auftaucht, dass sie sogar einen eigenen Namen hat: vagina dentata.

Eine Geschichte der Diffamierung

Die Geschichte der Vulva ist erstens eine Geschichte der Abwertung, Diffamierung oder schlichtweg eine Geschichte der Ignoranz. Sie ist zweitens eine Geschichte der Zerstörung und Verdrängung von all jenen Bräuchen, Mythen und Kulturgütern, die die Vulva in ein wertschätzendes, kraftvolles, eigenständiges Licht rücken. Aber Mithu Sanyal hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau diese zu suchen, um eine dritte Geschichte hinzuzufügen.

So stößt man etwa auf Legenden, in denen Frauen ihre Röcke heben, und dadurch den Teufel in die Flucht schlagen, die See beruhigen oder die Menschheit vor einem großen Unheil bewahren. Man liest von der indischen Göttin Kali, deren Verehrung die britischen Kolonialherren des 17.Jahrhunderts in Angst und Schrecken versetzte. Sie wird nackt dargestellt, stehend auf ihrem lächelnden Mann Shiva, und behängt mit einer Kette von Totenschädeln. Bis an die Zähne bewaffnet.

In der Mitte des Buches betrachtet man dann erstaunt die Abbildung einer steinernen Nonnenskulptur am Eingang einer romanischen Abteikirche aus dem 13.Jahrhundert. Die Kutte hochgezogen, zeigt sie ihre nackten Brüste und - dem nicht genug - streckt dem Betrachter hockend, mit gespreizten Beinen ihre prachtvolle Vulva ins Gesicht. Man weiß nicht mehr, was eine solche - heutzutage fast absurd wirkende - Nonnenfigur damals für eine kulturelle Bedeutung hatte. Die Autorin Sanyal schreibt, die Vulva solcher Skulpturen sei oft ganz glatt, wie abgegriffen. Vielleicht haben die Menschen sie berührt, um gesegnet zu werden.

Striptease in den 1930ern

Mithu Sanyal gräbt aus, was Jahrtausende lang in einer patriarchalen Gesellschaft verdrängt wurde. Kapitel für Kapitel arbeitet sie sich von der Antike über das Mittelalter ins 20. Jahrhundert vor.

So landet man in der Welt des Burlesque im New York der 1930er Jahre. Die amerikanische Striptease-Tänzerin Gypsy Rose Lee irritiert dort als intelligente Nackte. Während sie sich auszieht, parodiert sie das Zeitgeschehen, treibt es ins Groteske oder provoziert schlichtweg. Ihren Striptease-Stücken gab sie Titel wie "I can't strip to Brahms", "Illusions" oder "A Stripper's Education".

Ihre berühmteste Routine "A Strippers Education", mit der sie bis zu ihrem frühen Tod mit 58 Jahren auftrat, war ein Querschnitt durch die Kunst- und Literaturgeschichte und stellte den Akt des Striptease gleichberechtigt neben das restliche Kulturschaffe des Abendlandes. In dem Film "Stage Door Canteen" (...) kann man beobachten, mit welcher Souveränität Lee es schaffte, ihren Körper wie ein Gemälde zu enthüllen und darin zu blättern wie in den Seiten eines Buches, sodass es unmöglich wurde, ihn zu konsumieren, ohne die Person darin wahrzunehmen.

Mithu Sanyal berichtet weiter von der New Burlesque Bewegung, die Frauen wie Gypsy Rose Lee zum Vorbild nahmen. Sie erzählt von der kalifornischen Fat-Bottom-Revue, in der übergewichtige Tänzerinnen ihren Körper trotzdem als erotisch und begehrenswert präsentieren.

Von Künstlerinnen thematisiert

Mithu Sanyal schreibt weiter von den Punk-Piratinnen der 1990er Jahre, die sich für Mädchen stark machten, von der Künstlerin Annie Sprinkle, die in ihrer berühmtesten Performance Besucher dazu ermunterte, sich ihren Muttermund anzuschauen, oder von Mimosa Pale, die 2007 ihr "mobile female monument" durch Helsinki schiebt: Eine riesige Vulva, durch deren Vagina man ins Innere kriechen kann, um dort Harfe oder Gitarre zu spielen. Subjektiv gesehen, sagt Mithu Sanyal im Interview, hat sich viel getan in den letzten Jahrzehnten, um die Vulva von ihrer Beschämung zu befreien. Dennoch:

"Es ist ja immer noch so, also zumindest, als ich Jugendliche war, dass ich mein Genital eher dadurch kennengelernt habe, als: Das musst du sauber halten, das stinkt und das kann sich entzünden, da kann es Infektionen geben. Und ich glaube, ich hätte gerne eine wertschätzende Form, darüber zu sprechen."

Ärger, Betroffenheit und Lachen

Nach wie vor hört man selten eine Frau liebevoll über ihre Vulva sprechen, stattdessen zählen die Synonyme für "Vulva", die im Deutschen etwa mit F beginnen, zu den härtesten Schimpfwörtern. Nach wie vor weiß man in der Medizin sehr wenig über die weiblichen Genitalien. Man hat sehr wohl darauf geachtet, dass Männer so operiert werden können, dass ihre Erregbarkeit bestehen bleibt. Bei Frauen kann man - aufgrund des fehlenden Wissens - kaum darauf Rücksicht nehmen.

Mithu Sanyal weist auch auf die Millionen junger Mädchen hin, deren Genitalien nach wie vor verstümmelt werden, indem man ihnen die Klitoris und die Schamlippen entfernt und die gesamte Vulva wegschabt.

Das Lesen von "Vulva - die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts" verursacht einmal Ärger, einmal Betroffenheit, einmal Lachen. Vor allem aber liefert Mithu Sanyal gebündelt eine Zusammenführung all jener Zeugnisse, die das weibliche Genital in einem zwar nicht neuen, aber nach wie vor ungewohnten Licht darstellen. Hier darf die Vulva endlich einmal strahlen, in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit, oder besser: in ihrer ganzen Pracht und Weiblichkeit.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Mithu M. Sanyal, "Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts", Verlag Klaus Wagenbach

Link
Wagenbach - Vulva

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