Gedichte von Abraham Sutzkever

Gesänge vom Meer des Todes

Abraham Sutzkever ist einer der bedeutendsten Dichter, der in Jiddisch schreibt. Als Überlebender des Wilner Gettos veröffentlichte er seine Erinnerungen an diese schreckliche Zeit. Seine Gedichte aus diese Zeit sind jetzt neu übersetzt erschienen.

Abraham Sutzkever meinte Jahre nach dem Krieg einmal, er habe nie bessere Gedichte als im Getto und bei den Partisanen geschrieben. Und im Gettobericht heißt es:

Nie hatte ich in Wilne solch ein Jiddisch vernommen. Es war die Sprache eines Lebens, das sich dem Tode nicht unterwerfen wollte.

Agitprop

In den vier Dutzend im Getto der Nazis verfassten Gedichten, Klageliedern, die mitunter bis zu Oratoriumsgröße anwachsen, gelingt es dem einstigen Expressionisten des Dichter-Kreises "Jung-Wilne" alles Pathos ganz ins Gedicht hinein zu verlegen. In der großen Ballade "Vor meiner Verbrennung" scheut Sutzkever auch vor Agitprop à la Majakowskij nicht zurück.

Jude sein heißt: ständig bereit sein zu Prüfung, zu Prüfung und zum Wunder. (...) Die jüdische Kraft, aus Wortsymbolen, / weckt jetzt die Welt mit einem Schuss.

Großartige Übersetzung

Im 20-seitigen "Kol-Nidre" sagt eine der beiden Stimmen: "Ihr seht, ich bin / ein Krieger, ein Rotarmist". Wie immer die Gedichte im Jiddischen Original auch klingen mögen - der Übersetzer Hubert Witt hat bei der Übertragung von Sutzkevers Gedichten Großartiges geleistet. Vor allem bei jenen scheinbar harmlos anmutenden kleinen Liedern wie "Ein Wagen Schuhe", in dem in nur drei Zeilen die eine ganze Welt ins Wanken gebracht wird.

Die Räder jagen, jagen,
was tragen sie mir zu?
Sie bringen einen Wagen
Voll zuckender Schuh.


Mitunter klingt der markante Celan-Tonfall zu stark durch.

Forderung nach Gerechtigkeit

Am 27. Februar 1946 tritt Abraham Sutzkever als offizieller Zeuge beim Nürnberger Prozess auf. Auch ein am selben Tag entstandenes Gedicht klagt Gerechtigkeit für den millionenfachen Mord ein.

Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden,
wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit.


Nur ein Jahr später, 1947, am Höhepunkt der spätstalinistischen sogenannten Antikosmopolitenkampagne, verlässt Sutzkever die Sowjetunion, um nach Palästina ins künftige Israel auszuwandern.

So sehr sich seine spätere Lyrik mit den neuen politischen Realitäten seines Landes auseinandersetzt, "die Höllengassen des Erinnerns" verlässt Sutzkever, der sich einmal als "Wiedergänger der Leichen-Brenner von Ponar" bezeichnete, nie mehr ganz. Er fragt dichtend nach der Zukunft des Jiddischen, kehrt immer wieder nach Wilne zurück, oder zu Perez Markisch, dem von Stalin ermordeten Dichterfreund.

Atemberaubend

Andere Partner dichterischer "Gipfelgespräche" sind Else Lasker-Schüler, Milton und Shakespeare. Aus dem Jahr 1974 stammt schließlich ein Gedicht, das nicht nur von atemberaubender Schönheit ist - ihm gegenüber nimmt sich die vielfach strapazierte Fragen nach der Möglichkeit von Gedichten "nach Auschwitz" als pure Harmlosigkeit aus.

Wer wird bleiben, was wird bleiben? Bleiben wird ein Wind,
blieben wird die Blindheit eines Blinden, die verrinnt,
bleiben wird ein Meereszeichen, nur ein Krönchen Schaum,
bleiben wird ein kleines Wölkchen, hoch auf einem Baum.

Wer wir bleiben, was wird bleiben? Bleiben wird ein Wort,
Schöpfungsgras, hervorzukeimen heut und immerfort.
Bleiben wird die Fiedelrose - ehrenfest und schön,
sieben Gräser all der Gräser werden sie verstehn.

Mehr als all die vielen Sterne über dieser Welt
Jener Stern wird bleiben, der in eine Träne fällt.
Auch ein Tropfen Wein wird bleiben, hier in seinem Krug.
Wer wird bleiben? Gott wird bleiben. Ist dir's nicht genug?

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipps
Abraham Sutzkever, "Gesänge vom Meer des Todes", aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag

Abraham Sutzkever, "Wilner Getto 1941-1944", aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt, Ammann Verlag

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Link
Ammann Verlag - Gesänge vom Meer des Todes