Die neutrale Beobachterin

Clarissas empfindsame Reise

Clarissa reist in die USA. Es sind die USA jener Wahlkampfzeit, aus der Barack Obama als Präsident hervorgehen sollte. Die Reise wird zu einer Art Odyssee voller Begegnungen und Geschichten, von denen Irene Dische elegant und kurzweilig erzählt.

"Sich verlieben können ist eine Begabung, und ich habe sie." Clarissa, von der diese Selbsterkenntnis stammt, ist kein Kind von Traurigkeit. Sie verliebt sich gern und oft. Zuletzt war es ein Dichter, ein verheirateter, experimenteller Lyriker aus Minsk, der in Deutschland lebt, der Objekt ihres Sich-Verlieben-Könnens wurde. Doch die Affäre verlief unglücklich.

Um sich von Ivan, dem Dichter, zu befreien und ihren Kummer zu vergessen, beschließt sie zu verreisen - Clarissa, die amerikanische Jüdin, die seit zwei Jahrzehnten in Deutschland lebt, verheiratet mit einem wohlhabenden Chirurgen. Mit ihrem Flug nach Amerika, den sie sich als Medizin gegen Liebeskummer verschreibt, beginnt Irene Disches neuer Roman, "Clarissas empfindsame Reise."

Politische Aufbruchstimmung

Clarissa, Mitte dreißig, selbstbewusst, attraktiv und unbekümmert, vom Leben verwöhnt und auch ein bisschen oberflächlich, wurde als Fünfzehnjährige von New York ins Exil geschickt. Sie hatte sich mit dem Wachmann des Internats eingelassen. In dem Glauben, "in Europa wäre ein Mädchen vor Männern sicher", wurde sie von ihren Eltern nach Deutschland verfrachtet. Doch sie lagen gründlich daneben.

Clarissa begann ein unstetes, nur der eigenen Lebens- und Liebeslust verpflichtetes Leben, die Verbindung zu den Eltern: gekappt. Nun kehrt sie zum ersten Mal wieder in die USA zurück - ein Land, in dem politische Aufbruchsstimmung herrscht.

"Ich wollte jemanden haben, der vollkommen unbefangen ist, dem die Politik egal ist", sagt Irene Dische über ihre Protagonistin. "Ich wollte, dass ausgerechnet so jemand die Situation beschreibt. Nicht urteilt."

Interessante Begegnungen

Clarissas "empfindsame Reise" wird zu einer Art Odyssee durch Amerika, voller Ab- und Umwege, voller Begegnungen und Geschichten, von denen Irene Dische in ihrem kleinen, episodenhaften, mit Apercus und kleinen Boshaftigkeiten gewürzten Roman elegant und kurzweilig erzählt.

In Miami teilt Clarissa das Zimmer mit einer Russin, die ihr Geld lieber in ihren Körper steckt statt in die Bank und, nach Nasen-OP, nun einer Brustvergrößerung entgegensieht. Nach Orlando fährt sie in Begleitung eines gutaussehenden jungen Mannes, der nicht, wie sie glaubt, Däne, sondern amerikanischer Chirurg mit palästinensischen Wurzeln ist.

Im Pick-Up eines anderen jungen Mannes gelangt sie in einen Trailerpark, wo Gläubige in Wohnwagen leben, der Bibelexegese frönen und über ihren favorisierten Präsidentschaftskandidaten sprechen - einfache Leute wie Frankie, die ihren tödlich verunglückten Sohn betrauert. In einer Bar trifft sie schließlich Paul, den Großschriftsteller, in den sie sich zu verlieben vornahm - ein Trinker und Melancholiker, der ihr seine Lebensgeschichte anvertraut.

Im falschen Bus

In Asheville in North Carolina, wo sie landet, weil sie den falschen Greyhound-Bus bestieg, lernt sie eine junge Frau kennen, ein Mischlingskind mit trister Biografie: Waisenhaus, Drogen, Crack, Straße, die Rettung in ihrer Politikbegeisterung findet. In Anchorage schließlich erkennt sie in einem "alten Kauz mit Überbiss" den mächtigen Pressezaren Harold, der sich anschickt, Berater der Gouverneurin von Alaska zu werden, und wird beinahe von einem Fischer und Schneemobilrennfahrer vergewaltigt, der sich als der prolohafter Gatte jener Gouverneurin entpuppt.

Am Ende landet Clarissa dann doch noch in New York. Früh am Morgen eines Frühlingstages erlebt sie ihr vorerst letztes Abenteuer. "Soll ich Ihnen etwas zeigen?", fragt ein junger Kellner, den sie später zum Mann machen wird. Er wirft den Ghettoblaster an - und "plötzlich schoss er hoch und wieder nach unten. Er begann zu levitieren!"

Einer vom Volk der Luo

Eingestreut in die als Ich-Erzählung rekapitulierten Reise-Erlebnisse Clarissas sind Zukunftsvisionen und Rückblenden, gesendete und empfangene E-Mails, Beiläufiges über Schönheit, Luxus und Eitelkeit, über Reisen und Rallye-Sport - Clarissa war einst dem Motorsport verfallen -, über Geld und Gewissen, Eltern und Kinder. Und über Politik. Denn Clarissa streift in jenen Wochen des Jahres 2008 durch die Staaten, da die Vorwahlen das Land in Atem halten und ein bislang kaum bekannter schwarzer Politiker die Massen elektrisiert. Im Frühstücksraum eines Hotels im Miami hört sie zum ersten Mal den Namen Obama, einen Namen, der sie an das afrikanische Volk der Luo erinnert.

"Sie hat die Vorstellung, dass er wie ein Hotelportier ist, der Luo war, mit dem sie mal ein Verhältnis hatte", erklärt Dische. "Sie hat eine beschränkte Sicht, aber manchmal ist das ganz befreiend. Ich habe übrigens selber in Afrika gelebt bei den Luo, und als ich den Namen Obama zum ersten Mal gehört habe, habe ich gedacht, dass muss ein Luo sein, das ist ein typischer Luo-Name. Das sind ganz tolle Leute. Sie sind wie er, sie sind sehr ruhig und überlegt."

Hoffnungsträger Obama

Auch wenn manche den schwarzen Kandidaten als perversen Moslem oder islamischen Spion diffamieren - die meisten, die Clarissa begegnen, sehen in ihm einen Hoffnungsträger und zeigen sich im Obama-Fieber. Obama ist der Mann, der alle anspricht und alle überzeugt: den Pastor im Trailor-Park, den Ex-Junkie und selbst den Berater der republikanischen Gouverneurin. "Der holt auch noch die Stimme der Rassisten", glaubt der Großschriftsteller, und ein anderer weiß von einem Ku-Klux-Klan-Mann, der zu Obama tendiert: Denn "der Neger" hat "Manieren".

"Diese Leute haben viel mehr nachgedacht, wen sie wählen sollten, als die in New York, die von Anfang an wussten, entweder Clinton oder Obama", meint Dische. "Diese Leute waren fast alle Republikaner und haben sich das genau angeguckt, was Obama ihnen bietet. Die waren nicht geblendet von Obama, die haben gemerkt, dass er gut redet, dass er vernünftig ist. Viele Leute haben mir gesagt, sie wählen ihn. In dem Roman kommt jemand vor, der sagte, das ist ein Gentleman. Damit meint er, dass er überlegt ist, dass er beherrscht ist, die Dinge überschaut, und dass er ruhig ist. Er hat gute Manieren, nicht wie ein Cowboy. Bush war ja ein Cowboy."

Neue Entdeckungen

Kein Wunder, dass auch Clarissa den Wunsch verspürt, sich für Obama zu engagieren, auch wenn ein blinder Enthusiasmus für Obamas "Botschaft der Hoffnung" Clarissas durchaus selbstironischem Naturell eher fremd ist. Sie heuert in einem Wahlkampfbüro an, erweist sich aber für den ihr zugewiesenen Telefondienst als minder begabt. Eine Erfahrung, die Clarissa mit der Autorin teilt. "Ich wollte für Obama arbeiten, und zwar nicht, weil er der Messias ist, sondern weil das erste Mal jemand, der mir einleuchtete, kandidiert hatte", sagt sie.

Irene Dische, wie ihre Heldin aus New York stammend und seit langem in Deutschland zuhause, hat im vergangenen Frühjahr die USA bereist und vieles neu entdeckt. Sie hat den Wahlkampf verfolgt und für Obama gearbeitet. "Zum ersten Mal in meinem Leben spendete ich für einen Politiker", schrieb sie in der Wochenzeitung "Die Zeit", in der sie vor ein paar Monaten ihre Amerika-Impressionen schilderte, die jetzt eingeflossen sind in ihren Roman - einen Roman, den ein unangestrengt-salopper Ton ebenso auszeichnet wie leise Ironie.

Nach Hause kommen

"Die Vorstellung, man brauche nur weit genug zu reisen, dann verliere jeder Kummer, der einen verfolgt, irgendwann die Spur, ist zwar offensichtlich falsch, aber einen Funken Wahrheit enthält sie doch", resümiert Clarissa. Denn die "Lebenserwartung von Kummer" liege zwischen ein paar Monaten und allenfalls ein paar Jahren.

Nun, solange dauert Clarissas Reise zwar nicht, und immer wieder blitzt auf, wie ihre unglückliche Liebe sie noch immer beschäftigt. Und doch sieht man am Ende eine andere, eine gelöstere Clarissa, für die die Begegnung mit dem Amerika von heute, mit Menschen aus anderen Milieus, mit anderen Problemen auch zur Selbstbegegnung wurde, zu einer Art "Bildungsreise", einer "sentimental journey".

Am Ende sieht sich Clarissa sogar imstande, eine Nummer zu wählen, die sie zwanzig Jahre nicht mehr gewählt hatte. "Du bist nach Hause gekommen, nicht wahr?", sagt ihr Vater am anderen Ende der Leitung. "Wir haben auf dich gewartet."

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Irene Dische, "Clarissas empfindsame Reise", aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser, Verlag Hoffmann und Campe

Link
Hoffmann & Campe - Irene Dische