Aufrichtigkeit im Kapitalismus

Lüge als Prinzip

Wir alle lügen - zuhause, im Freundeskreis, im Beruf - ununterbrochen. Das Thema Lüge fasziniert den deutschen Soziologen Wolfgang Engler so sehr, dass er sich nun in einem ambitionierten Buch damit auseinandersetzt.

Der ehemalige Burgtheaterdirektor Ernst Haeusserman hat einmal gesagt, für jeden komme die Stunde der Wahrheit, dann heiße es lügen, lügen und nochmals lügen. Diese kleine Anekdote bringt ganz gut auf den Punkt, worauf es in einer gesellschaftlichen Konstellation, die nach den Regeln des Wettbewerbs funktioniert, ankommt.

Authentisch sein, sich selbst verwirklichen, bei sich und wahrhaftig sein, das kann man in den Nischen des Privaten - sofern diese nicht auch schon nach dem Muster des öffentlichen Lebens, das heißt: nach den Regeln des Marktes gestaltet sind. Abseits des Privaten, also im Beruf, im Umgang mit Institutionen, ganz allgemein im gesellschaftlichen Kontext, kommen wir ohne Strategien, ohne eine gewisse Anpassung, ohne Kompromissfähigkeit nicht allzu weit. Wir müssen uns, wie es gemeinhin heißt, möglichst gut verkaufen. Wir müssen also, um es streng zu formulieren, lügen.

Historische Diskurse

Wir haben, meint Wolfgang Engler, die Lüge zum Prinzip gemacht. Oder vielmehr: der Kapitalismus hat uns dieses Prinzip aufgezwungen. Nun ja, könnte man sagen, das klingt recht markig, bedeutet aber nicht viel. Natürlich sind wir nicht prinzipiell amoralisch, bloß weil wir nicht ununterbrochen aufrichtig sind. Abgesehen davon ist "der Kapitalismus" ein Mythos. Jedes System ist beweglich und vielgestaltig. Verantwortlich für moralische Verwerfungen ist der Einzelne innerhalb dieses Systems.

Würde sich Wolfgang Engler also auf eine plumpe Kapitalismuskritik dieser Art kaprizieren, dürfte man sein Buch bedenkenlos der Altpapiersammelstelle überantworten. Es stellt sich aber heraus, dass der Autor, als ob er selbst ein Glaubwürdigkeitsproblem hätte, gegen den Titel seines Buches anschreibt. Nach ein paar Seiten wird klar: um Lüge als Prinzip geht es darin gar nicht. Um den Kapitalismus nur am Rande. Es geht darin fast ausschließlich um die Genese des Begriffes "Aufrichtigkeit". Und der ist kulturhistorisch in theologische, philosophische und sprachwissenschaftliche Diskurse eingebettet. Die Ökonomie spielt dabei auch eine gewisse Rolle, aber das tut sie immer, wenn Menschen etwas aushandeln.

Sprache und Körper

Ein breites Feld der Deutung tut sich auf. Denn: Wann lügt jemand? Und wann ist er aufrichtig? Wie lässt sich das beurteilen? Philosophisch gesehen war die Angelegenheit bis in die Neuzeit recht eindeutig: Sobald sich jemand der Sprache bedient, ist es mit der Aufrichtigkeit vorbei?

Die Vernunft wurzelte in einem Satz angeborener Ideen, die dem Menschen vor jeder Kommunikation mit auf die Welt gegeben waren. Mit der Sprache kam der Körper ins Spiel, Stimme, Ausdruck, Mundart. All das gehörte zu den res extensa, den ausgedehnten Dingen, trat zur Welt der geistigen Dinge, den res cogitans, nur äußerlich hinzu, als Tribut an die Unvollkommenheit des Menschen, sein zufälliges Wesen. Was bewies diese Zufälligkeit schlagender als die Tatsache, dass dieselben Ideen in den verschiedenen natürlichen Sprachen auf höchst verschiedene Weise tönten? Innere Notwendigkeit beanspruchte allein der Denkprozess. In der Kommunikation geriet der Gedanke unweigerlich in die Fänge der Willkür.

Worte täuschen

Das Grundproblem der Sprache war und ist noch immer die - sagen wir: eingeschränkte Fähigkeit, Gedanken abzubilden. Bis ins frühe 20. Jahrhundert war dies ein weit verbreitetes Lamento: Misstraue den Worten, sie täuschen, mehr noch, sie sind imstande, Wirklichkeiten herzustellen, die niemand sehen und begreifen kann.

Wolfgang Engler verfolgt in seinem Buch diesen aussichtslosen Kampf um die Überbrückung der Kluft zwischen Denken beziehungsweise Fühlen und Sprechen. Einen Kampf, der im 18. Jahrhundert aus der Theorie in die Lebenspraxis übergeführt wurde, da im Zuge der Aufklärung die Pädagogik die Aufrichtigkeit zu idealisieren begann, als ob es möglich wäre, einen Menschen von klein auf eindeutig kommunizieren zu lassen.

Die doppelbödige Kommunikation des Absolutismus

Klar, die höfische Rhetorik des Absolutismus hatte die Verstellung, die Intrige, die doppelbödige Kommunikation, die Sprachmaske zum Ideal erhoben. Sprechen hieß immer Fallen stellen. Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen, lautet ein typischer Aphorismus Charles Maurice de Talleyrands - und gerade den Sündenfall der Aristokratie wollte die Pädagogik der Aufklärung ungeschehen machen. In Johann Michael Sailers zeitgenössischem Ratgeber "Über Erziehung für Erzieher" heißt es:

Weil die Aufrichtigkeit mit zur schönen Kindheit gehöret, weil die Falschheit den Charakter der Menschen durch und durch verdirbt, weil die Lüge an sich die hässlichste Form des Bösen ist: so soll der Kodex der Kinderbildung eigentlich nur die zwei Gesetze enthalten: Das erste: Sei gehorsam! Das zweite, dem ersten gleich: Sei offen, aufrichtig, lüge nicht!

Man merkt schon: Wie man die Sache auch anpackt - sie muss schiefgehen.

Inflation der Begriffe

Aufrichtigkeit ist ein Ideal, vielleicht auch eine Chimäre. Das belegen dann die ökonomischen Diskurse des 19. Jahrhunderts, in denen von der menschlichen Natur und ihren wahren Bedürfnissen die Rede ist, ohne dass über diese Natur und über das Wahre ein Einvernehmen erzielt werden konnte.

Die Oberhand behielten die Marktliberalen mit ihrer Auffassung, dass man die Menschen frei gewähren und durchaus auch egoistisch handeln lassen solle, denn die dadurch freigesetzten Energien würden am Ende Wohlstand für alle schaffen. Lüge und Wahrheit sind keine objektiven Gegebenheiten mehr, sondern ebenso Waren, mit denen es sich handeln lässt. Und wenn wir gegenwärtig eine Inflation der Begriffe "echt", "natürlich" oder "authentisch" erleben, dann handelt es sich eben auch um produzierte und vermarktete Gefühle, denen so viel Wirklichkeit innewohnt, wie der Konsument bereit ist, darin zu sehen.

Das kann man natürlich als die zum Prinzip erhobene Lüge bezeichnen, die Frage ist nur: Gibt es ein echtes Echt? Ein natürliches Natürlich? Ein authentisches Authentisch? Oder sind dies Konstruktionen, die unabhängig von äußeren Bedingungen immer künstlich sind? So wie die Natur, der Geschmack, das Reine keine Dinge, Werte oder Empfindungen an sich sind, sondern Erfindungen des menschlichen Geistes. Vorstellungen. Lügengebilde, wenn man so will. Wolfgang Engler kommt da auch auf keinen grünen Zweig. Er kann der Situation auch nur paradoxe Erkenntnisse abgewinnen:

Das authentische und das echte Subjekt haben eines gemeinsam: Ihre Identität ist ihr ureigener Besitz, etwas, was ihnen weder von außen noch von oben zugewiesen wird, weder von sozialen Zellen noch von einer staatlichen Autorität.

Service

Wolfgang Engler, "Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus", Aufbau Verlag

Aufbau Verlag - Lüge als Prinzip