Leben und Sterben im Berlin der 1920er

Alles ist Jazz

Hinter jedem Leben, das der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zum Opfer fiel, stand auch ein Mensch mit seinem Alltag, seinen Träumen und seinen Talenten. Einer von diesen war Lili Grün. Ihr Erstlingsroman ist jetzt neu aufgelegt worden.

Die Versuchung ist groß, Lili Grüns Romane als autobiografische Dokumente zu lesen, da die Lebensdaten der 1904 in Wien geborenen Schauspielerin und Schriftstellerin nur sehr bruchstückhaft erhalten sind.

Elisabeth Grün war jedenfalls die vierte Tochter des aus dem ungarischen Élesd stammenden Kaufmanns Hermann Grün und seiner Frau Regina. Der Schnurrbartbindenfabrikant hatte sein Geschäftslokal in der Arnsteingasse 33 im heutigen Rudolfsheim-Fünfhaus, wo auch die Familie wohnte. Lili Grün erlernte den Beruf einer Bürofachkraft. könne daher davon ausgehen, dass sie keine höhere Schulbildung hatte, sagt die Literaturwissenschaftlerin Anke Heimberg. Sie hat die wenigen gesicherten biografischen Daten Lili Grüns in einem ausführlichen Nachwort der Neuauflage des Romans "Alles ist Jazz" zusammengetragen.

Lili Grün bewegte sich in Wien in einem durchaus interessanten Umfeld: Hilde Spiel gehörte ebenso zu ihren Weggefährten wie Robert Neumann, der auch ihr Manuskript an den Zsolnay-Verlag vermittelte. Ihre Liebe zum Theater dürfte sie sehr früh entdeckt haben. Heimberg vermutet, dass sie in dieser Zeit wahrscheinlich schon kleine Komparsen- oder Statistenrollen an kleineren Theatern übernommen hat.

Beginn mit Kabarett

In der Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen zog es Lili Grün nach Berlin mit seinen zahlreichen Theatern und Kleinkunstbühnen, mit seinen Rundfunk- und Filmstudios. 1931 gründete sie zusammen mit gleichgesinnten Künstlern das politisch-literarische Kabarett-Kollektiv "Die Brücke", für das etwa niemand Geringerer als Hanns Eisler Arrangements schrieb.

Im Berlin der 1930er Jahre spielt auch Lili Grüns Roman "Alles ist Jazz". Ihre Protagonistin Elli ist ebenfalls Wienerin, die es aufgrund eines kurzfristigen Engagements an der Berliner Volksbühne in die deutsche Metropole gelockt hat. Sehr bald ist sie aber wieder arbeitslos, macht wie ihre Erfinderin die Not zur Tugend und gründet ihr eigenes Kabarett.

"Hältst du es nicht für ein bißchen verlogen, dass wir uns Jazz nennen? Jazz klingt entschieden nach mondän, findest du nicht?"
"Nein, ich finde es nicht!" Hullo malt weiter. Ein wunderschönes unleserliches J ist an der Reihe. "Ich finde bloß, daß heutzutage eben alles Jazz ist, was man hört und was man sieht. Man demonstriert in diesem Rhythmus, man malt in diesem Rhythmus... und du gehst so! Haste das noch nicht kapiert?"
"Ja, denn wenn ich nein sage, erklärst du mir's nochmal und dem bin ich nicht gewachsen."

Hunger und Krankheit

Das Leben der Künstler in Berlin ist aber nicht nur mondän. Wenn wieder einmal kein Geld da ist, dann gibt es auch nichts zu essen. Mit dem Hunger einher gehen Krankheiten wie die Tuberkulose, an der auch Lili Grün litt. Im Roman erlebt Elli den Tod ihrer Freundin Hedwig. Und sie stellt fest, dass dieser Lungeninfektion außerhalb der Fiktionalität jegliche Poesie fehlt.

Hedwig liegt im Bett, vor sich das aufgeschlagene Rollenheft. Bis zur Premiere muß man gesund werden, schlapp machen gilt nicht! Seit zwei Tagen liegt sie im Spital, aber die zwei Tage haben sie merkwürdig verändert. Hedwig ohne Schminke, im Spitalskittel, mit mageren Armen, spitzen Schultern, keine Zigarette zwischen den Lippen. (...) Es ist nicht poetisch, lungenkrank zu sein, es ist nicht poetisch, in einem langen, freudlosen Spitalssaal zu liegen, zwischen hustenden, spuckenden Menschen. Es ist nicht die Krankheit, die Elli aus der schönen Literatur kennt, es ist eine arme, arme Proletarierkrankheit, es ist ein häßliches Siechtum. Keiner von ihnen wird mit einem bißchen Blut auf den Lippen und einem Lächeln sterben.

Eine neue, selbstbewusste Generation

Als "beachtenswerten Beitrag zur Zeitgeschichte der jungen Generation" lobte der Journalist Emanuel Häußler im "Neuen Wiener Tagblatt" den Roman bereits 1933. Das Berlin der 1920er Jahre präsentierte sich dabei als sehr tolerant gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren. So arbeitet Protagonistin Elli in der Sternenbar, die als Lesbentreffpunkt bekannt ist. Elli ist die Frau einer neuen, selbstbewussten Generation, die ihr Schicksal in die Hand nimmt und auch über ihre Beziehungen selber bestimmt.

Heimberg nennt den Roman "eine Art Selbstfindungsroman". Grün erkenne, "dass die Schauspielerei eigentlich das ist, für das sie lebt, also dass der Beruf quasi vor der Liebesbeziehung kommt. Und in dem Sinne steht sie auch für eine Tendenz von Frauenromanen in den 20er Jahren", erklärt Anke Heimberg, die sich intensiv mit Schriftstellerinnen dieser Zeit auseinandergesetzt hat.

Das Gefühl des pulsierenden Berlins vermitteln

Als Herausgeberin entschloss sich Heimberg, den Originaltitel "Herz über Bord" zu verwerfen. Einerseits gab es im Verzeichnis lieferbarer Bücher bereits Werke unter diesem Namen und andererseits wollte sie vermeiden, dass das Buch in die Ecke der Frauen-Trivialliteratur gesteckt wird.

Der neue Titel, "Alles ist Jazz", soll das Gefühl des pulsierenden Berlins der 1920er Jahre transportieren und ist auch programmatisch für die lebendige Sprache Lili Grüns, die von der ersten Seite an in den Bann zieht.

Nach dem beachtlichen Erfolg des Romandebüts erschien 1935, ebenfalls im Zsolnay-Verlag, Lili Grüns zweites Werk mit dem Titel "Loni in der Kleinstadt", das jedoch in der Qualität nicht an ihr erstes Buch anknüpfen konnte. 1936/37 gelang der Abdruck ihres vermutlich letzten Werkes in der Zeitschrift "Wiener Tag". Der Roman trägt den sperrigen Titel "Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit". Wie aus der Korrespondenz mit dem Zsolnay-Verlag hervorgeht, hatte Lili Grün zu dieser Zeit bereits große finanzielle und gesundheitliche Probleme. Der Verlag bemühte sich, ihr zu helfen.

Trauriges Ende

"Mit dem Transport Nummer 23 - der hat 981 Juden und Jüdinnen umfasst - ist sie deportiert worden aus Wien, und ist nach wenigen Tagen in Maly Trostinec angekommen", ergaben Heimbergs erschütternde Recherchen. "Was man aus der Forschungsliteratur dazu weiß ist, dass die Menschen sofort an Gruben gefahren wurden, drumrum Aufstellung nehmen mussten und die sind dann erschossen worden."

Lili Grün wurde 1942 Opfer des Rassenwahns der Nationalsozialisten. In die Freude über die Wiederentdeckung ihres Erstlingsromans mischt sich Nachdenklichkeit: Welche ihrer Werke konnten dem Vergessen nicht entrissen werden? Welche Bücher hätte Lili Grün noch geschrieben?

Service

Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Lili Grün, "Alles ist Jazz", Aviva Verlag

Aviva - Alles ist Jazz