Politik als Beruf

Karl Lueger

Er war ein innovativer Politiker, der die christlich-soziale Partei formte. Er war ein problematischer Politiker, der sich skrupellos des Antisemitismus bediente, um seine Ziele durchzusetzen. Zwei Biografien widmen sich der Karriere des Doktor Lueger.

Wie immer man zu ihm stehen mag: Seinen Platz in der österreichischen Geschichte kann ihm keiner wegnehmen. Karl Lueger hat in den 1890er Jahren eine neue innovative Massenbewegung zur schlagkräftigen Partei geformt, zur Christlich-Sozialen Partei; er hat dem Kleinbürgertum der Reichs- und Residenzstadt Wien zu neuem, wenn auch prekärem und problematischem Selbstbewusstsein verholfen; und er hat seine Heimatstadt als Bürgermeister zur modernen Metropole umgeformt.

Ein klares Feindbild

All diese Erfolge waren allerdings um einen hohen Preis erkauft. Karl Lueger konnte zum Liebling der kleinbürgerlichen Massen nur werden, weil er ihnen ein klares Feindbild bot: die Juden. Der christlich-soziale Politiker zog gegen die, wie er es nannte, "internationalen Geldcliquen" ebenso vom Leder wie gegen die vermeintliche Unterdrückung des "christlichen Volkes" durch Juden und Liberale.

John W. Boyer, hochangesehener Historiker aus Chicago, zeichnet Lueger in seiner Monographie als charismatischen Machtmenschen. Über seinen eindrucksvollen Leistungen als Kommunalpolitiker werde allerdings für alle Zeiten ein Schatten liegen, schreibt Boyer.

Die antisemitische Rhetorik, deren Lueger sich in der Öffentlichkeit bediente, war krud, beleidigend und nicht selten herzlos. (...) Dass das öffentliche Herumhacken auf den Juden eine abscheuliche Praxis war, dass sie unschuldigen Menschen eine psychologische Bürde auferlegte (...) und dass sie ein Vorbild für künftige Politiker abgab, die eine viel stärkere Neigung hatten, die Dinge wörtlich zu nehmen, ist eine Last, die der österreichische "Christliche Sozialismus" auf ewige Zeiten mit sich herumschleppen muss.

Vom Ehrgeiz getrieben

In seiner voluminösen Studie zeichnet Boyer den Lebensweg des "Doktor Lueger" vom armen Wiedner Vorstadtbuben zur unumstrittenen Führerfigur des politischen Katholizismus in Österreich nach. Der fleißige hochbegabte Sohn eines Schulwarts - der Vater war am Theresianum beschäftigt - konnte kraft seiner Intelligenz selbst das Theresianum besuchen.

Er studierte Jus, wurde Mitglied der katholischen Studentenverbindung "Norica Wien", eröffnete eine Anwaltskanzlei und war dabei schon früh von unerhörten Ehrgeiz getrieben, wie Boyer schreibt.

Seine ersten Erfahrungen als Kommunalpolitiker sammelte Lueger im liberalen Lager, ehe er mit der Altherrenriege der Wiener Liberalen brach und zusammen mit Intellektuellen wie Karl von Vogelsang, Aloys von Liechtenstein und dem Theologen Franz Martin Schindler nach und nach - und unter allerlei Schwierigkeiten - eine neue, schlagkräftige politische Bewegung schuf, die sich 1893 auch als Partei konstituierte: die Christlich-Soziale Partei.

Synthese aus Modernismus und Antimodernismus

John W. Boyer zeichnet Karl Lueger in seinem Buch als widerspruchsvollen Politiker: Modernismus und Antimodernismus gingen in seinem politischen Wirken eine kreative und äußerst erfolgreiche Synthese ein. Antimodern war das rückwärtsgewandte, aufs Ständisch-Mittelalterliche rekurrierende Welt- und Menschenbild des ersten christlich-sozialen Bürgermeisters von Wien.

Modern war Luegers Kommunalpolitik mit der Verwirklichung innovativer Infrastrukturprojekte, modern war sein Umgang mit Propaganda und PR; und modern war schließlich seine demokratische Gesinnung, die im konservativ-katholischen Lager der späten k.-k.-Monarchie alles andere als selbstverständlich war.

Diskrepanz zwischen Reden und Denken

Dennoch: Berühmt und berüchtigt ist Lueger bis heute vor allem durch seinen rabiaten Antisemitismus. Obwohl: Wie antisemitisch der christlich-soziale Volkstribun im Innersten seines Herzens wirklich fühlte, darüber kann nur spekuliert werden.

Es gab oft eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was er sagte, und dem, was er meinte. Joseph Bloch sprach diese Eigenschaft mit seiner Bemerkung an, Lueger sei kein großer Radikaler, aber ein großer Schauspieler. Lueger war sich des Unterschieds bewusst, der zwischen öffentlicher und privater Kommunikation besteht.

Ein Populist reinsten Wassers

Es scheint wohl so gewesen zu sein, dass Lueger den Antisemitismus vor allem aus taktischen Gründen einsetzte. Er war eben ein Populist reinsten Wassers, ein ausgefuchster Demagoge, der in Wahlversammlungen Hetzreden gegen "Talmudjuden" und die Macht des Großkapitals führte und privat mit jüdischen Freunden tarockierte, wie der Lueger-Gegner Arthur Schnitzler in seiner Autobiographie süffisant festgehalten hat.

Sei's, wie es sei: Als Lueger im März 1910 starb, hinterließ er eine erfolgsverwöhnte, aber desorientierte Partei. Wie viele Charismatiker hatte er potenzielle Führungsfiguren neben sich gar nicht erst hochkommen lassen.

Die Massen bewegt

Von seinen Nachfolgern wurde der "Doktor Lueger" zu einer Art kommunalem Heiland hochstilisiert, zum Altwiener Übervater von fast schon mythischem Format, der dem katholischen Ladenschwengel aus der Naglergasse ebenso das Gefühl gegeben hatte, für ihn ganz persönlich da zu sein, wie der darbenden Greißlerswitwe aus der Josefstadt oder dem am Rande des Bankrotts dahinwirtschaftenden Schuster aus Meidling.

Dass Lueger nicht nur ein problematischer, sondern auch ein innovativer Politiker war, wird auch in dem Nachruf deutlich, den ihm die "Arbeiterzeitung" nach seinem Tod widmete. Der verstorbene Bürgermeister habe einen "unbändigen Willen zur Macht" gehabt, schrieb die AZ am 11. März 1910. Er sei vielleicht der erste bürgerliche Politiker gewesen,...

... der mit Massen rechnete, der Massen bewegte. Das brachte eine tiefgehende Umwälzung mit sich, denn er raffte alles zusammen, was unterhalb der Großbourgeoisie und oberhalb des Proletariats nach Befreiung rang und befähigt schien, ihn als Befreier zu betrachten. Diese disparaten Schichten, die bedrängten Handwerker und Kleinkaufleute, die kleinen Beamten, die Handlungsgehilfen schmolz er zusammen zu einer Partei, er organisierte und disziplinierte sie, er machte aus dem von den liberalen Protzen hochmütig verachteten "Kleinen Mann" den Herrn dieser Stadt.

Für ein Fachpublikum

John W. Boyer hat keine süffige Lueger-Biografie für ein breites Publikum geschrieben, obwohl man das von der Aufmachung des Bands her vermuten könnte. Sein 600-Seiten-Wälzer richtet sich an ein historisches Fachpublikum: In professoralem, bisweilen ein wenig umständlichem Duktus arbeitet Boyer die sozialen und politischen Dissonanzen und Tendenzen heraus, die nach dem Ende der Ringstraßenzeit zur Gründung der Christlich-Sozialen Partei geführt haben. Insofern ist sein Buch keine Lueger-Monographie im engeren Sinn, sondern eine ihr Material skrupulös ausbreitende Studie über die Entwicklung der Christlich-Sozialen von den 1870ern bis zum Beginn der 1930er Jahre.

Die andere Biografie

Wer Gschichterln und Anekdoten aus Luegers Leben sucht, wird bei Boyer natürlich nicht fündig. Der ist wahrscheinlich mit Anna Ehrlichs Biografie besser bedient: "Karl Lueger - Die zwei Gesichter der Macht". Anna Ehrlich, eine versierte Sachbuchautorin, bereitet Luegers Leben gschmackig, kurzweilig, kompetent und kritisch auf. In der politischen Analyse gibt sie sich differenziert, an Luegers Antisemitismus lässt sie kein gutes Haar.

Fazit: Fachhistoriker werden wohl zu Boyer greifen. Leserinnen und Lesern, die's eingängiger wünschen, sind mit Anna Ehrlichs Biografie wohl besser dran.

Service

John W. Boyer, "Karl Lueger - Christlich-Soziale Politik als Beruf", aus dem Englischen übersetzt von Otmar Binder, Böhlau-Verlag

Anna Ehrlich, "Karl Lueger - Die zwei Gesichter der Macht", Amalthea-Verlag

Böhlau Verlag
Amalthea Verlag