Sieben Jahre bei den Piraha-Indianern am Amazonas

Das glücklichste Volk

Weltweit existieren heute etwa 7.000 Sprachen. Eine der merkwürdigsten ist die der Piraha, einer Gruppe von Ureinwohnern im brasilianischen Amazonasgebiet. Der amerikanische Sprachforscher Daniel Everett hat jahrelang mit den Piraha gelebt.

Sie besitzt nur drei Vokale und sieben Konsonanten, kann gesungen, gesummt oder auch gepfiffen werden: die Sprache der Piraha. Die Piraha, Ureinwohner Brasiliens, leben am Maici-Fluss tief im Amazonasgebiet - zwei Tagesreisen von jeder Zivilisation entfernt. Daniel Everett lernte die Piraha 1977 als junger Missionar und Sprachforscher kennen.

"Ich war gerade 26, als ich mit meiner Familie und drei Kindern in Brasilien ankam, um als Missionar in den Dschungel zu gehen und die Piraha zu bekehren", erinnert sich Everett. "Ich war ihnen zugeteilt worden und sollte die Bibel in ihre Sprache übersetzen."

Kein Augenzeuge für Jesus' Existenz

Sieben Jahre lang blieb Daniel Everett in dieser völlig fremden Welt, die ihn mit einer der ungewöhnlichsten Kulturen konfrontierte. Daniel Everetts Auftrag gestaltete sich schwieriger als gedacht. Zwar nahmen die nach wie vor als Jäger und Sammler lebenden Piraha den Missionar in ihrer Mitte auf, bekehren ließen sich die rund 300 Ureinwohner aber nicht.

"Nachdem ich einige Monate dort war und die Sprache schon halbwegs beherrschte, kamen eines Tages mehrere Männer in mein Haus und sagten: Wir mögen dich und wir wissen, dass du uns magst und dass du hergekommen bist, um uns über Jesus zu erzählen. Aber wir wollen nichts über ihn hören", erzählt Everett. "Wir sind keine Amerikaner. Wir sind Piraha, und Piraha glauben nicht an Jesus. Ein anderes Mal fragten sie mich über Jesus aus: Hast du ihn gesehen, welche Hautfarbe hat er, wie groß ist er? Und als ich sagte, dass ich ihn nie gesehen hätte, fragten sie, nun, hat dein Vater ihn gesehen? Nein, mein Vater hat ihn nicht gesehen. Und sie sagten: Also niemand, den du kennst, hat ihn gesehen? Warum erzählst du uns dann von ihm? Wir würden nie über etwas sprechen, wofür wie keine Beweise haben. Wenn es keinen Augenzeugen gibt und du selbst keiner bist, solltest Du nicht darüber sprechen."

Kein Wort für Liebe

Daniel Everett stellte schnell fest, dass die kulturellen Eigenheiten und die einzigartige Sprache der Piraha allen Erwartungen zuwiderläuft. So existieren weder Ausdrücke für Farben wie rot oder blau, noch gibt es Worte für Abstraktes, etwa für Gefühle.

"Sie kennen kein Wort für Liebe - ich meine, sie umschreiben es: 'Ich mag dich sehr'. Das ist nicht ungewöhnlich", meint Everett. "Das findet man auch im Spanischen und in anderen Sprachen neben einem allgemeinen Wort für Liebe. Sie sprechen nicht über die Zukunft - 'Ich wundere mich wie das Leben in vielen, vielen Wassern sein wird' - oder etwas in der Art.Das ist keine Frage, die ein Piraha einem anderen Piraha stellen würde."

Weder "heute" noch "morgen"

Weil nur über das unmittelbar Erlebte gesprochen wird, kennen die Piraha weder Schöpfungsmythen noch andere Überlieferungen, weder gibt es ein Wort für "heute" noch eines für "morgen". Was Daniel Everett aber am meisten verblüffte, war das Fehlen von Zahlen. Zwar unterscheidet man zwischen eins, zwei und vielen, ein Zählsystem kennen die Piraha aber nicht.

"Wenn man ein Piraha-Kind in Wien erziehen würde, würde es lernen, fließend Deutsch zu sprechen, es würde genauso zählen wie jedes andere Kind seines Alters", so Everett. "Aber sie brauchen nicht zu zählen. Deshalb haben sie keine Begriffe für Zahlen und kein Zählsystem entwickelt. Der wahrscheinlich interessanteste Aspekt dieser Sprache ist, wie gut sie in ihre eigene Kultur passt. Die Einfachheit des Satzbaus, das Fehlen von Zahlen - es passt zu ihrem Lebensstil."

Das Fehlen von Worten für Zahlen sei letzten Endes das Ergebnis kultureller Einschränkungen, ist Daniel Everett überzeugt.

Die Relevanz des Augenblicks

Weil im Leben der Regenwaldbewohner nur das Erfahren des Augenblicks relevant ist, fehlen in ihrer Sprache auch die Nebensätze, behauptet der Sprachforscher. So verbinden die Piraha niemals zwei einzelne Aussagen in einem Haupt- und Nebensatz. Ein Beispiel: Die Aussagen "Der Mann sitzt im Kanu" und "Er fängt Fische" würde in der Sprache der Piraha nie zu einem Satzkonstrukt wie "Der Mann, der im Kanu sitzt, fängt Fische" verbunden werden. Genau diese Behauptung Everetts war es auch, die für viel Aufregung sorgte.

"Als ich behauptete, dass die Piraha keine Nebensätze kennen, nannte man mich einen Lügner, einen Scharlatan, einen Rassisten", erzählt Everett. "Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Es stimmt, dass, wenn das Piraha keine Nebensätze kennt, das ein großes Problem für die am meisten verbreitete linguistische Theorie ist: Noam Chomskys 'Universale Grammatik'."

Die Fähigkeit, komplexe Satzstrukturen zu bilden, sei ein Merkmal, das die knapp 7.000 lebenden Sprachen verbinde, behauptete der Linguist Noam Chomsky in seiner Universalgrammatik. Es sei genau diese Fähigkeit, die uns Menschen vom Tier unterscheide - und diese Fähigkeit sei bereits im menschlichen Hirn angelegt. Also universell. Die Forschungen Daniel Everetts konnten diese These nicht unterstützten und lösten einen wahren Glaubenskrieg unter Linguisten aus.

Der Einfluss auf den Missionar

Everetts Buch "Das glücklichste Volk: Sieben Jahre bei den Piraha-Indianern am Amazonas" ist aber mehr als eine theoretische Abhandlung linguistischer Phänomene. Der Forscher beschreibt darin auch sehr persönlich, wie die fremde und faszinierende Weltsicht der Piraha seine eigene Lebenseinstellung von Grund auf änderte:

"Ich habe die lebensverändernde Entscheidung getroffen, mich von der Religion abzuwenden. Insofern haben die Piraha mich mehr beeinflusst als ich sie. Das Außergewöhnlichste, das den Menschen auffällt, die die Piraha mit mir besuchen, ist ihre Zufriedenheit. Wie sie einfach den ganzen Tag am Strand sitzen und hungern oder fischen. Wenn in der Nacht ein Sturm kommt, alle nass macht und die Häuser umwirft, weil die sehr wackelig gebaut sind, regt das niemanden auf. Sie lachen und drängen sich zusammen und sprechen die ganze Nacht, und am nächsten Tag wird geschlafen. Es ist ihre Belastbarkeit und ihre Fähigkeit, mit Problemen umzugehen. Es ist nicht so, dass ihr Leben einfacher wäre als unseres. Sie sind glücklicher wegen ihrer inneren Kraft und der kulturellen Werte, die westliche Kulturen nicht mehr besitzen. Das hat mich zweifellos beeinflusst, als ich ihnen über Jesus erzählte und versuchte, sie zu bekehren. Ich stellte fest, dass sie bereits glücklicher waren als alle Christen, die ich kannte. Und sie hatten fest verankerte Werte. Ihre Fröhlichkeit ist nicht oberflächlicher Natur."

Daniel Everett erzählt sehr persönlich von der Konfrontation mit der ihm am Beginn so fremden Welt der Piraha. Das macht "Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Piraha-Indianern am Amazonas" zu einer gelungenen Mischung aus persönlichem Erfahrungsbericht, Abenteuererzählung und wissenschaftlichem Sachbuch - eine Lektüre, die nicht nur das Fachpublikum begeistern kann.

Service

Daniel Everett, "Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Piraha-Indianern am Amazonas", Deutsche Verlags-Anstalt

DVA - Das glücklichste Volk