Das Leben der Marlen Haushofer

Alles wird vergebens gewesen sein

Sie könne nicht leben, wenn sie nicht schreibe, sagte Marlen Haushofer einmal. Sie blieb ihren Zeitgenossen ein Rätsel und nach ihrem frühen Tod 1970 geriet sie beinahe in Vergessenheit, wäre nicht ihr Roman "Die Wand" geblieben.

Stille Schmerzen

Eine Reise nach Rom, im Mai 1968. Der Mann klagt über Rückenschmerzen, Herzbeschwerden, Migräne. Die Frau hat Schmerzen in den Beinen, wie schon so oft. Rom macht es nicht besser, wie denn auch? Man ist ja hier, um etwas zu sehen, etwas zu erleben. Als müsste er Beweise sammeln, schaut der Mann ständig durch den Sucher seiner Kamera. Ansonsten hat er schlechte Laune. Sie macht sich Sorgen. Abends behandelt sie ihn mit Rheumasalbe. Ihre Beine schmerzen noch immer. Sie sagt nichts. Er fragt nichts.

Der Verstand bleibt

Ein halbes Jahr später, in Florenz, diesmal mit einer Freundin, kann die Frau kaum mehr gehen. Sie muss weiche Hausschuhe tragen, auch auf der Straße, um etwas von der Stadt zu sehen. Zuhause in Steyr stellt der Arzt eine Apfel-große Geschwulst am rechten Hüftgelenk fest. Es ist Knochenkrebs, schreibt sie einer Freundin. Oder Knochentuberkulose. Sie schreibt das, wie sie über schlimme Dinge immer redet: beiläufig. Sie weiß, dass sie sterben wird und sie weiß, dass das Sterben begleitet wird von Unerklärlichem und von Einsamkeit. Den Verstand verliert sie nicht. Nur die Geduld und den Gleichmut.

Sie arbeitet an ihrem Roman, ihren letzten Roman "Die Mansarde". Es ist der Roman einer Ehe, keiner glücklichen allerdings, aber das sind die Ehen bei Marlen Haushofer nie. Auch ihre eigene war glücklos, obwohl sie sich nie hatte daraus lösen können oder wollen. Sie, die Ehefrau eines Zahnarztes in Steyr, zwei Kinder, immer zu wenig Zeit, zu wenig Platz, zu wenig Verständnis.

Den "lästigen Körper" ablegen

Den Roman kann sie abschließen. Am 26. Februar 1970 schreibt Marlen Haushofer ihren letzten Text. "Mach dir keine Sorgen." So lautet der erste Satz.

Du hast zu viel und zu wenig gesehen, wie alle Menschen vor dir. Du hast viele Schmerzen ertragen, ungern, wie alle Menschen vor dir. Dein Körper war dir sehr bald lästig, du hast ihn nie geliebt. Und was ist die Seele? Wahrscheinlich hast du nie eine gehabt, nur Verstand. Und der war nicht bedenkend der Gefühle.

Am 21. März 1970, vormittags um 11:15 Uhr stirbt Marlen Haushofer, drei Wochen vor ihrem 50. Geburtstag. Das Leben endet, wie sie es immer wieder beschworen hat in ihren Texten, qualvoll, als dürfe es dieses Glück nicht geben, dessentwegen man nicht aufhört zu leben, als dürfe sich keine Hoffnung erfüllen, derentwegen man alles erträgt, was einem widerfährt und woran man immer wieder scheitert.

Antwort auf die Lebenslügen

Im November 1960, zehn Jahre vor ihrem Tod, beginnt Marlen Haushofer mit der Niederschrift des Romans "Die Wand", von dem sie weiß, dass er alles überragen wird, was sie vorher geschrieben hat und was danach kommen wird. Im Kauf-dir-einen-bunten-Luftballon-Österreich, im Toni-Sailer-und-Peter-Alexander-Österreich, im Vorwärts-und-schnell-vergessen-Österreich ist diese 1963 erschienene apokalyptische Vision vom Ende der Menschheit, von der Natur als Antiidylle, von der vollkommenen Vereinsamung des vermeintlich einzigen überlebenden Individuums, von der Sinnfreiheit allen Geschehens die vielleicht stärkste Reaktion auf die Lebenslügen der Zweiten Republik.

Marlen Haushofers avancierte Haltung in der Literatur hat keine Entsprechung in ihrem Leben - als Frau eines Zahnarztes im oberösterreichischen Steyr, als Mutter zweier Söhne, als Schriftstellerin in einem von Männern dominierten und in Einflusszonen aufgeteilten Literaturbetrieb. Zugleich ist dieses Leben die Ursache für alles, was Marlen Haushofer schreibt. Es geht immer um Wände. Und um die Luft, die fehlt.

Die Luft, die Marlen Haushofer bis zum Erscheinen der "Wand" gefehlt hat, könnte sie nun atmen. Der Roman macht Furore, erwartungsgemäß, wenngleich er sich nicht besonders gut verkauft. Aber das ist nicht das Kriterium. Entscheidend ist, atmen zu können, Raum zu haben, schreiben zu können, wo und wann es beliebt.

Keine öffentliche Person

Nun ist sie dort angekommen, wo Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger schon lange sind, in einer aufmerksamen und interessierten Öffentlichkeit, als selbstbestimmte Produzentin im Literaturbetrieb. Doch Marlen Haushofer entscheidet sich nicht für das Schreiben als Existenzform. Oder sie kann sich nicht entscheiden.

Sie bleibt in Steyr. Sie bleibt beim Ehemann, auch nachdem die beiden schon längst geschieden sind, der Kinder wegen, aber nicht nur. Sie meidet Wien, verbringt immer nur wenige Tage dort, hauptsächlich um sich mit Hans Weigel zu treffen, ihrem Berater, Förderer, zeitweiligen Liebhaber und - seltsam genug, wenn man sich das Männerbild in ihren Texten vergegenwärtigt - Übervater.

Sie leidet unter Depressionen, allerdings bereits seit früher Jugend. Dass es überhaupt weitergeht, wundert sie selbst. Obgleich sie nichts unternimmt, um sich im Betrieb zu positionieren. Sie lehnt eine Einladung zu einem Treffen der Gruppe 47 ab. Sie absolviert keine Lesereise. Sie ist überhaupt nicht öffentlich, sieht sich selbst als "Landpomeranze".

Dem verschwundenen Wesen nachspüren

Der Konflikt ihres Lebens: Freiheit oder Geborgenheit. Beides passt nicht unter einen Hut. Nicht in Marlen Haushofers Vorstellung. Es geht schon in der Kindheit nicht zusammen. Keine schlechte Kindheit übrigens: Maria Helene Frauendorfer, geboren am 11. April 1920 im oberösterreichischen Frauenstein. Der Vater Förster, ein humoriger Mensch. Viel Natur, viel Einsamkeit auch. Die Mutter streng katholisch, katholisch streng, deshalb mit zehn Jahren ins Internat.

Die Krankheit beißt sich bereits im Kind fest. Die Depression. Schmerzen, immer wieder. Der Körper: eine Last. Nur der Verstand ist ihr wichtig. Trotzdem spürt sie später immer wieder dem Kind nach, das sie war, diesem anderen Wesen, das verschwunden war seit dem Internat und seit sie früh schon zum ersten Mal Mutter geworden war, mit einundzwanzig Jahren.

Die richtigen Wörter aneinanderreihen

Das Kind, das sie war, wollte die Wirklichkeit verbannen, und wirklich waren die schlechten Träume, die vielleicht auch nur Bilder dafür waren, was es nicht in Sprache fassen konnte und was Nacht für Nacht an das Kind heranrückte.

"Sie ist überzeugt davon", heißt es im Roman "Himmel, der nirgendwo endet", dass man "nur die richtigen Wörter aneinanderreihen muss, um ganz neue Dinge zu erschaffen. Das wissen alle Zauberer, und darauf beruht ihre Macht. Sie will auch gern einmal diese Macht besitzen, aber gleichzeitig hat sie Angst davor und verschiebt die Zauberei auf später. Es könnte ja geschehen, dass sie damit ein Ungeheuer erweckt."