Zu Hofmannsthals "Rosenkavalier"-Libretto

Abschied von einer Gesellschaftsform

"Komödie für Musik" - so bestimmte Hugo von Hofmannsthal das Genre seines Textbuchs für Richard Strauss, und das zielt nicht nur auf den im Grunde heiteren Charakter des Ganzen, sondern teilt jedem, der um die Tradition der Komödie weiß, mit, daß sich darin viel mehr unterbringen läßt als bloß Heiteres:

Wir haben es mit einem Libretto zu tun, dessen Form und Gehalt sich nicht eindeutig festlegen lässt, und das ist seine Stärke. Der erste Akt mit dem Lever bei der Marschallin erinnert an eine Revue, ein teilweise fast frivoles Sittenbild aus dem aristokratischen Leben der maria-theresianischen Epoche; im zweiten Akt kontrastieren die zarten Töne der Begegnung Oktavians mit Sophie dem rüpelhaften Auftritt des Ochs von Lerchenau im Stile einer Posse, wie sie im Wiener Vorstadttheater der Brauch war, und im dritten Akt steht der schwankhaften Intrige, die der Entlarvung der unredlichen Absichten des Landadligen dient, das gefühlsbetonte Finale gegenüber: Die weise Marschallin weiß Haltung zu bewahren, gibt kaum - so ganz im Gegensatz zum Typ der verlassenen furienartigen Geliebten in den Tragödien - ihrer Enttäuschung nach und überläßt Oktavian der jüngeren Sophie und seinem vermeintlichen Glück.

Sie ist die Zentralfigur des Stücke, eine Heldin ohne Pathos, und sie ist es auch, die die zentralen Probleme anspricht: Das Vergehen der Zeit und die Notwendigkeit des Abschiednehmens. So ernsthafte Fragen, die sonst die heitere Atmosphäre der Komödie stören würden, wiegen hier leicht, weil sie in den komödiantischen Kontext eingebettet sind und nur sehr moderat, fast beiläufig vorgebracht werden. Die Wahl der Epoche - das erste Jahrzehnt der Regierung Maria Theresias (also 1740 bis 1750) - ist alles andre als willkürlich:

Sie war für Hofmannsthal die Epoche, die im besten Sinne idealtypisch für das Österreichische stehen konnte, und ein Historiker vom Range Oswald Redlichs bestätigte dem Dichter die Authentizität des Zeitkolorits. Es galt, unwiederbringlich Verlorenes, im Guten wie im Schlechten, szenisch aufzubewahren; doch erfolgt dies nicht in historisierender Manier, sondern gehorcht dem von Hofmannsthal gepflegten Prinzip der "Stilverdrehungsmanie": Die Probleme einer Epoche in das Gewand einer anderen zu kleiden.

Es geht um den Abschied von einer Gesellschaftsform, und so detailgenau auch das 18. Jahrhundert belebt wird, so werden in diesem Kostüm doch auch die Probleme der Zeit transparent, der der Dichter angehörte. Ein kritisches Bild der Gesellschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird anhand einiger Repräsentanten entworfen. Wir befinden uns in einer von Männern dominierten Gesellschaft, doch ist dieses Patriarchat außerordentlich fragwürdig geworden:

Auf der einen Seite der Emporkömmling Faninal, der auch seine Tochter als Kapital betrachtet, das man gewinnbringend anlegen kann; dem Reichtum fehlt noch der Glanz der Herkunft, und diesen möchte er ausgerechnet durch die Eheschließung mit einem durch und durch korrupten Vertreter der Aristokratie herstellen. Faninal beherrscht zwar die Pose des gründerzeitlichen Parvenüs, macht aber sich und seinesgleichen durch sein unterwürfiges Verhalten gegenüber dem Baron von Lerchenau lächerlich.

Dieser wiederum verkörpert den Niedergang der Aristokratie; ihm fehlt jeglicher Charme des Décadents; er ist schlechthin das Gegenstück zu Hans Kari Graf Bühl im "Schwierigen", der antiurbane Typ, der den Aufstand und das ungehobelte Selbstverständnis der Provinz verkörpert. Eine so radikale Adelskritik wird man in keinem anderen Werk Hofmannsthals finden. Er ist ganz anders als jene überfeinerten Dekadenten, jene Erben, die in Hofmannsthals frühen Texten den Kult ihrer überfeinerten Nerven betreiben. Die fundamentale Skepsis, die der Lord Chandos in seinem berühmten Brief durchscheinen läßt, ist ihm völlig fremd.

Ochs und Faninal sind einander komplementär; gegen ihren Komplott, der sich als Produkt aus dem unglückseligen Junktim von Herkunft und Kapital erklärt und von unerträglicher Selbstsicherheit organisiert ist, richtet sich nicht nur das spontane Einverständnis von Octavian und Sophie, sondern auch das Komplott des Komödianten- und Intrigantenduos Valzacchi und seiner Nichte Annina. Durch ihr Spiel im Spiel, durch ihre perfide Kunstfertigkeit wird die Handlung in Gang gehalten, ein für jedes Lustspiel unentbehrliches Ferment.

Octavian ist die Alternative zu Faninal und Ochs, Vertreter einer neuen Generation, der offenkundig durch seine Beziehung zur Marschallin doch auch um ein gutes Stück vifer ist, als es Siebzehnjährige sonst zu sein pflegen. Sophie und Octavian sind durch eine sanfte Revolution autonom in der Partnerwahl geworden und konnten so mit einem Prinzip brechen das der Erhaltung von Standesinteressen diente. Die Fassade muß erhalten bleiben, doch - man denkt wieder an das Fin de Siècle - sind die Normen, die den Lebenswandel regulieren sollen, brüchig geworden.

Davon zeugt das Liebesverhältnis der Marschallin, davon noch deutlicher das protzige Selbstverständnis des Ochs von Lerchenau. In der Öffentlichkeit muß der Schein erhalten und das Decorum gewahrt werden. So handelt der Text auch von den gesellschaftlichen Widersprüchen und legt sie bloß; doch es geht alles, auch für die üblen Charaktere, vergleichsweise glimpflich aus. Die Ordnung wird wieder hergestellt, die Widersprüche bleiben. Mit diesen kann die Marschallin von allen am besten umgehen; sie will keine Welträtsel lösen, sie weiß um ihr Altern, sie kann und will mit der Resignation leben: "Das alles ist geheim, so viel geheim. Und man ist dazu da, daß man's ertragt." So wird die Welt nicht geändert, gewiß, aber auf der Folie dieser noblen Zurückhaltung wird das schamlose Treiben männlicher Herrschaft manifest.

Text: Wendelin Schmidt-Dengler