Bigger than live
Die Mutter der Pille
Mit seinen 85 Jahren pendelt der quicklebendige, stets elegant bis bohemienhaft gekleidete Herr zwischen London und San Francisco, hält Vorträge, kümmert sich um seine Theaterprojekte, die Herausgabe seiner Bücher und Stücke und seine Kunstsammlung.
8. April 2017, 21:58
Er ist einer von denen, die einem die Angst vor dem Alter nehmen können. Mit seinen 85 Jahren pendelt der quicklebendige, stets elegant bis bohemienhaft gekleidete kleine Herr zwischen seinen Wohnsitzen in London und San Francisco, schafft sich eben noch einen dritten in Wien, hält Vorträge in der halben Welt, kommuniziert simultan mit der ganzen, kümmert sich um seine Theaterprojekte, die Herausgabe seiner Bücher und Stücke, besucht Ausstellungen und managt seine Kunstsammlung. Die Djerassis, sagt er, werden alle alt. Sein Vater, ein bulgarischer Arzt, sei 93 geworden als er starb - bei einem Autounfall.
Immer ein Wiener
Seine Biografie böte mühelos Platz für mehrere erfolgreiche Leben. Wiewohl auch sie geprägt und begleitet ist von Emigration, Schicksalsschlägen und Tod. Letzten Winter ist seine Frau, eine amerikanische Literaturwisschenschafterin, nach langer Krankheit, an Krebs gestorben. Im Alter von 28 nahm sich Djerassis Tochter, eine Künstlerin, das Leben. Er gründete daraufhin eine Stiftung für junge Künstler auf seiner Ranch in Kalifornien. Bei ihm selbst wurde bereits vor einem halben Jahrhundert im linken Knie Knochentuberkulose diagnostiziert. Djerassi lässt das Kniegelenk entfernen und den Fuß versteifen, um so einem Leben mit Krücken zu entgehen.
Zu Wien hat der 20-fache Ehrendoktor, der für seine wissenschaftlichen Leistungen mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war, heute ein wehmütig-entspanntes Verhältnis. "Die Heimatlosigkeit", sagt er, "bemerkt man komischerweise erst im späteren Leben." In der ersten dreißig oder vierzig Jahren, habe seine Herkunft keine "große Rolle gespielt." Erst jetzt, gegen Ende seines Lebens, werde ihm klar, dass er eigentlich "immer ein Wiener" war. Sein Elternhaus am Donaukanal mit Blick auf die Urania steht heute nicht mehr. 1938 flüchtete der 15-jährige mit seiner Mutter, einer Wiener Ärztin, über Umwege in die USA.
Revolutionäre Entwicklungen
Er erhält ein Stipendium für ein College in Missouri und studiert Chemie. 1949 geht Djerassi nach Mexiko. Syntex, damals eine kleine Firma, hatte sich entschlossen an der Synthese von Cortison zu arbeiten. Mit Erfolg, wie sich alsbald herausstellen sollte. Cortsion galt als medizinische "Wunderwaffe", war aber in der Herstellung zu teuer. "Das war" schwärmt Djerassi noch heute, "damals eines der größten Probleme der organischen Chemie. Und wir, in dieser kleinen mexikanischen Firma, wir waren die ersten. Das war sensationell. Wir waren in allen Zeitungen."
Kurz darauf, 1951, folgte ein weiterer Paukenschlag. Djerassi gelang es, gemeinsam mit Gregory Pincus und John Rock, das Sexualhormon Gestagen künstlich herzustellen. Damit war die Voraussetzung zur Produktion der Anti-Baby-Pille geschaffen. Djerassi wird seither, wie er selbstironisch meint, weltweit in erster Linie als "Mutter der Pille" geführt. Wiewohl sein Rollenrepertoire weitaus größer ist. Die Tatsache allerdings, dass wohl kaum eine andere "Erfindung" das Verhältnis von Mann und Frau und die gesellschaftspolitische und demografische Entwicklung der Welt so sehr geprägt hat wie die "Pille", nimmt Djerassi heute gütig und befriedigt zur Kenntnis.
Als am 22.November 1951 "Norethindron" als Mittel zur Empfängnisverhütung zum Patent angemeldet wurde, war Carl Djerassi wissenschaftlich gesehen ein gemachter Mann. Das Patent freilich gehörte der Firma, deren Angestellter Djerassi war. Doch Djerassi hatte mit Syntex nicht nur wissenschaftlich, sondern auch finanziell aufs richtige Pferd gesetzt. Er kaufte Syntex-Aktien und war als Aktionär am Erfolg der Firma wesentlich beteiligt. Seine weitläufige Ranch, eine Autostunde von San Franciso entfernt, nannte er zunächst auch S.M.I.P.-Ranch -"Syntex Made It Possible". Heute bevorzugt er allerdings eine andere Interpretation des Kürzels: "Sic Manebimus in Pace" - so werden wir in Frieden bleiben.
Kunstsammler und Schriftsteller
Nach seiner Rückkehr aus Mexiko folgten: Eine Professur in Detroit, Forschungen auf dem Gebiet der Insektenschutzmittel und schließlich, ab 1959, ein Lehrstuhl an der Stanford-University in Kalifornien, einer der reichsten und besten Hochschulen der Welt. Doch Carl Djerassi dachte und denkt nicht daran sich auf 1200 wissenschaftlichen Publikationen und auf seinen Syntex-Aktien auszuruhen. Er sammelt Kunst, vor allem Paul Klee, und beginnt in den 1980-er Jahren Lyrik und Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Er kreiert mit "Science-in-Fiction" eine neue Romangattung, schreibt Theaterstücke und beginnt verstärkt, sich mit seiner jüdischen Herkunft und Identität auseinanderzusetzen.
Sein jüngstes literarisches Großprojekt, die szenische Textmasse "Vier Juden auf dem Parnass", kreist um Arnold Schönberg, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und Walter Benjamin. Die vier Herren residieren am Parnass, im griechischen Olymp der Dichtkunst, und lassen ihre Leben Revue passieren. Allerdings kommt dabei kaum Hochgeistiges zu Tage. Die vier eitlen Herren plagt vielmehr eine ganz und gar unphilosophische Frage: Der Ehebruch. Mit nachgerade kriminalistischem Eifer versuchen sie herauszufinden, wer wen möglicherweise wann mit wem betrogen hat.
Carl Djerassi schmunzelt, wenn er von den "Vier Juden" erzählt. Manches, das weiß er, lässt sich nur im Alter publizieren. Denn der Unernst braucht den Ernst als Basis. Die Leichtigkeit entsteht aus der Überwindung der Schwere. Carl Djerassi hat es nicht mehr notwendig, auf sein Leben und sein Werk zu verweisen. Er denkt lieber nach vorne. Und reist mit leichtem Gepäck. Das, findet er, steht ihm zu.
Mehr zum Hörspiel "Vier Juden auf dem Parnass" in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Carl Djerassi, " Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch. Benjamin - Adorno - Scholem - Schönberg.", aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner, mit Fotokunst von Gabriele Seethaler, Haymon Verlag