von Marie von Ebner-Eschenbach
Das Gemeindekind
Die sozialen Rahmenbedingungen könnten für Pavel, den Sohn eines Mörders, schlechter nicht sein. Er wird zum Musterbeispiel eines schwer erziehbaren Jungen. Erst nach Jahren voller Rückschläge wandelt sich das "Gemeindekind" zu einem rechtschaffenden Mitbürger.
8. April 2017, 21:58
"... dir ist Unrecht geschehn ..."
Pavels Vater wurde wegen Mordes gehenkt, seine Mutter zu zehn Jahren Haft ins Zuchthaus geschickt. Er und seine Schwester Milada sind mit diesem Makel behaftet, sie sind alleine und auf sich gestellt. Während Milada in den Augen der Baronin Gnade findet, von ihr aufgenommen wird und auf ihre Kosten in einer Klosterschule erzogen wird, verwildert der störrische Pavel zusehends. Die sozialen Rahmenbedingungen könnten für ihn, den Sohn eines Mörders und einer - unschuldig - zu Zuchthaus verurteilten Mutter, schlechter nicht sein.
Musterbeispiel eines schwer erziehbaren Jungen
Pavel kommt als Gemeindekind in die Obhut der verrufenen Familie des Hirten Virgil und seiner als Hexe und Giftmischerin verschrieenen Frau. Durch den Einfluss der Tochter dieses Hauses, der Pavel zunächst hörig ist, wird er zum Dieb und damit für die Gemeinde zu all dem, was ihm von den argwöhnischen Dorfbewohnern prophezeit worden ist: ein Auszustoßender. Einzig der Dorflehrer nimmt sich Pavels an und glaubt an ihn und die Möglichkeit seiner Einsicht. Dennoch lässt die Gemeinde Pavel den Makel, der ihm anhaftet, deutlich spüren, und er wird zum Musterbeispiel eines schwer erziehbaren Jungen. Erst nach Jahren und immer wiederkehrenden Rückschlägen wandelt sich das "Gemeindekind" zu einem rechtschaffenden Mitbürger, auch wenn es, nach wie vor, von seiner Umgebung misstrauisch begafft wird.
Befreiung von sozialer Herkunft
Pavel hat, auch durch die - wenn auch durch die Obrigkeit selten gestatteten Begegnungen - mit seiner Schwester, also den Wandel geschafft. Er beginnt aus eigenem Antrieb zu lernen, bezwingt seinen Menschenhass und wird, trotz aller Steine, die man ihm weiterhin in den Weg zu werfen versucht, zu einem Mitglied der Gemeinde.
Marie von Ebner-Eschenbach hat sich mit ihrem 1887 erschienenen und bereits damals höchst erfolgreichen Roman "Das Gemeindekind" erstaunlich früh und sehr vehement gegen die - nicht nur zu ihrer Zeit - vorherrschende deterministische Vererbungstheorie gewandt. Ihr Credo lautete, dass Menschen nicht allein Sklaven ihrer Herkunft und Opfer der Umstände sind. Menschen können sich, ein entsprechender Wille vorausgesetzt, aus den Fesseln ihrer sozialen Herkunft befreien.
Götz Fritsch bearbeitete den Roman und inszenierte ihn als Hörspiel in zwei Teilen.
Zur Autorin
Geboren wurde Marie von Ebner-Eschenbach 1830 auf Schloss Zdislawitz bei Kremsier in Mähren. 1856 zog sie nach Wien, wo sie eine Uhrmacherlehre absolvierte. Nach einigen literarischen Versuchen im dramatischen Bereich gelang ihr 1880 mit einem Band, der unter anderem auch die Novelle "Krambambuli" enthielt, der Durchbruch als Schriftstellerin. Zur Jahrhundertwende, 1900, erhielt sie als erste Frau den ersten Ehrendoktortitel der Universität Wien. In ihren Werken spiegeln sich ihr soziales Denken und ihr politisches Bewusstsein wider.
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