Madagassische Literatur

Vom Schreiben auf einer Insel

Die schriftliche Kultur kam relativ spät in den zweitgrößten Inselstaat der Erde: 1820 wurde das erste Buch auf Madagaskar veröffentlicht, ein christliches Liederbuch in der wichtigsten einheimischen Sprache. Seit damals ist viel geschehen.

Natürlich erzählte man sich schon vor Einführung der lateinischen Schrift auf Madagaskar Geschichten, erfundene und überlieferte. Die Geschichten rund um den Helden Ibonia zum Beispiel sind mehrere hundert Jahre alt und wurden zum ersten Mal um 1870 aufgeschrieben. Und natürlich existieren auch Erzählungen über die ersten Madagassen, die Vazimba, die sich irgendwo im Herzen der Insel verbargen, als sie von den Vorfahren der heutigen Bewohner, die aus dem malayischen und indonesischen Raum und sogar von den pazifischen Inseln nach Madagaskar gekommen waren, vertrieben worden waren.

Lateinische Schrift und religiöse Texte

Die Ankunft der beiden britischen Missionare David Jones und Thomas Bevan am 18.August 1818 änderte alles. Die bis dann in der Oberschicht gebräuchliche arabische Schrift Sora-Be hatte ausgedient. 1820 wurde das erste Buch in einheimischer Sprache veröffentlicht, dem Dialekt, der von der herrschenden Volksgruppe, den Sakalava gesprochen wurde.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Das erste Dokument in lateinischer Schrift und einheimischer Sprache wurde am 26.März 1823 unterschrieben: König Radama I. erlaubte den britischen Missionaren, die er selbst ins Land gerufen hatte, eine Druckerpresse zu installieren. Das erste Buch, das darauf gedruckt wurde, war eine Bibelübersetzung. Sie erschien am 21. Juni 1835. Die ersten madagassischen Schriftsteller setzten sich mit der christlichen Lehre auseinander und veröffentlichten ihre Werke in der christlichen Zeitschrift "Ny teny soa – Die gute Lehre".

Vorbild Frankreich

Am 6. August 1896 wurde Madagaskar französische Kolonie. Viel Personal wurde aus Frankreich geschickt, um Schulen, Ämter, Krankenhäuser zu betreiben, und sie brachten ihre Kultur mit, die den kreativen Geistern zum Vorbild wurde. Man passte sich an, beschäftigte sich mit "modernen" Themen, dachte über den Fortschritt nach und adoptierte die französische Sicht von Liebe.

Das erste madagassische Theaterstück, das eben nicht mehr wie bis dahin üblich christliche Legenden mit christlichen Liedern präsentierte, war eine Komödie mit dem Titel "Zefina sy Armand - Zefina und Armand" und wurde nur sechs Tage nach der ersten Oper, die auf der Insel gespielt wurde, aufgeführt - am 22. September 1899. Der Verfasser hieß Rajaonah Tselatra.

Herausragender Rabéarivelo

Eine der ersten herausragenden Gestalten der madagassischen Literatur war der 1901 geborene Jean-Joseph Rabéarivelo. Er stammte aus dem verarmten Hochadel, besuchte das renommierte College Saint-Michel, musste aber mit 13 Jahren gehen, weil er nicht in den Jesuiten-Orden eintreten wollte. Vielleicht blieb deshalb sein Französisch "unsauber", madagassisch: Er schrieb in beiden Sprachen Gedichte, Romane, Essays und Theaterstücke, und er war einer der ersten Sammler heimatlicher Literatur.

Sein großes Vorbild war Charles Baudelaire, und wie er litt er beständig an Geldnot, weil er spielte und eine verhängnisvolle Leidenschaft für Opium entwickelt hatte. Zwar war er Lektor einer Druckerei, aber die Bezahlung bestand darin, dass seine Bücher, Anthologien und Zeitschriften kostengünstig veröffentlicht wurden. Dass man ihn nicht anerkannte, und dass er sich nicht in Paris ansiedeln durfte, ließ ihn verzweifeln. Am 23. Juni 1937 vergiftete er sich. Einer der ersten, der seine Lyrik schätzte und vor allem in Afrika verbreitete, war Leopold Sedhar Senghor.

Der Zensur ausweichen

Wenige madagassische Autoren erlangten Weltruhm. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Autoren in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht frei entfalten konnten und in ihren Werken der strengen Zensur ausweichen mussten. Viele Autoren veröffentlichten unter Decknamen oder gingen ins Ausland. Zum Beispiel Rado, der in Wirklichkeit Georges Andriamanantena hieß. Er kam 1960 nach Straßburg, wurde Journalist und setzte sich vor allem für den Erhalt der madagassischen Kultur ein.

Die heute weitaus bekannteste Autorin Madagaskars ist Michèle Rakotoson. Sie war Mitglied der "Generation von 72", die gegen den Präsidenten Philibert Tsiranama protestierten, weil er das eigene Erbe für eine zu offensive Annäherung an Frankreich gefährdete. Sein Nachfolger Didier Ratsiraka setzte sich erst für die Ziele der "72er" ein: die Malgachisierung, die Dezentralisierung, die Liberalisierung, wurde aber im Lauf der Jahre immer despotischer. Auch Michèle Rakotoson wäre beinahe unter die Räder gekommen, hätte sie nicht nach einem Gefängnisaufenthalt Madagaskar verlassen. Seit 1983 lebt sie in Frankreich. Sie schreibt auf Französisch, aber ihr Thema bleibt Madagaskar.

Service

Michèle Rakotoson, "Die verbotene Frau", Lamuv, Black Women

Michèle Rakotoson, "Dadabé. Ein Kurzroman und zwei Erzählungen aus Madagaskar" Lamuv, Black Women