Sex, Lügen und Rabattangeboten

Bekenntnisse eines Reiseführer-Autors

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Bei professionellen Reisenden erfolgt dies zumeist schriftlich in Form eines Reiseführers. Die Erkenntnis, dass die darin enthaltenen Tipps und Empfehlungen keinesfalls immer aus erster Hand sind, verdanken wir den Enthüllungen Thomas Kohnstamms.

Ich würde sagen, der Unterschied zwischen reisen und darüber schreiben ist wie Sex haben und in der Pornoindustrie arbeiten. Es kann zwar Spaß machen, aber man muss seinen eigenen Interessen doch immer irgendwie zuwiderhandeln, und dabei geht das Privatleben irgendwann flöten.

Der heute 34-jährige Amerikaner Thomas Kohnstamm ist besessen vom Reisen. Immer wieder hat er versucht, sich eine bürgerliche Existenz mit geregelter Arbeit, fixer Wohnsituation und beruhigendem Sparkonto aufzubauen, nur um all diese zivilen Errungenschaften nach kurzer Zeit wieder einzutauschen gegen das nächste Ticket zu einer exotischen Destination.

Brasilien in 60 Tagen

"Surfen auf Sumatra, Skifahren in den Anden und auf jedem Kontinent mit mindestens einer Frau schlafen" waren die definierten Ziele seiner persönlichen Backpacker-Philosophie. Als er sich vor wenigen Jahren im 57. Stock eines New Yorker Wolkenkratzers mit Büro-Hilfsdiensten fast zu Tode langweilt, kommt das Angebot von "Lonely Planet", einen Reiseführer über Brasilien zu schreiben, gerade recht. Der australische "Lonely Planet" ist der weltweit bekannteste Führer für Rucksacktouristen.

Voller Enthusiasmus und Tatendrang und gedanklich begleitet von den Geistern Chatwins, Kerouacs und Hemingways, seiner Vorbilder als Reiseschriftsteller, bricht er auf zum Abenteuer Brasilien. Seine Aufgabe: in nur 60 Tagen muss er die wesentlichen Destinationen des fünftgrößten Staates der Erde nicht nur bereisen, sondern auch noch nach neuen Abstechern, empfehlenswerten Hotels, erwähnenswerten Restaurants oder auch optimalen Verkehrsanbindungen Ausschau halten und diese Informationen im typischen Schreibstil des Verlages in seinen Laptop tippen. Ein Ding der Unmöglichkeit, wie sich schon bald herausstellt.

Die Verbindungen eines brasilianischen Busbahnhofs auf dreißig Zeilen in einem Kasten herunterzudestillieren ist reine Alchimie, manche ergeben auch schlichtweg keinen Sinn. Müsste ich für das Buch irgendwelche Fahrpläne aufstellen, müsste ich sie erfinden, ich müsste lügen, nur um den Vorgaben von Lonely Planet zu entsprechen. Und genau das tue ich am Ende auch.

Rucksacktouristen unter sich

Thomas Kohnstamm findet sich schnell in einem wahren Teufelskreis. Er bereist als Rucksacktourist Orte, die für Rucksacktouristen interessant sein könnten und ist bei seinen Recherchen fast ausschließlich auf Hinweise von Rucksacktouristen angewiesen. Ähnlich wie in Alex Garlands Roman "Der Strand", der vor allem durch die Verfilmung mit Leonardo Di Caprio weltweit zum Begriff wurde, sucht er vergeblich nach Authentizität jenseits des eigenen Kulturkreises.

Die Heerscharen von Zivilisations-Flüchtlingen, die ihm auf seiner Hetzjagd durch Brasilien begegnen, haben zumeist ihre Suche nach Utopia, nach unverfälschten Erlebnissen oder nach unberührten Territorien längst aufgegeben. Ein Teil ist im Drogensumpf versunken oder selbst ins Drogengeschäft eingestiegen, ein weiterer hat sich in einer anderen Sparte des Alternativ-Tourismus gemütlich gemacht. Man reist also in ein fremdes Land, um sich auf ein exotisches, ursprüngliches Leben einzulassen und verbringt schließlich seinen Urlaub - oder auch den Rest seines Daseins - doch nur mit Gleichgesinnten, die genau dasselbe vorhatten.

Diese Rucksackfuzzis kann man alle in der Pfeife rauchen. Selbst Leute, die sich für erfahrene Weltenbummler halten und schon überall auf der Welt in irgendwelchen Hotels waren, sind oft nur neokolonialistische Einfaltspinsel. Sie wollen lediglich ihre Dollar, Euro, Yen oder Schekel in Billighotels, Bier und leicht zugängliche Drogen investieren und dann behaupten, sie wären intensiver, extremer oder authentischer unterwegs als alle anderen.

Zielpublikum: Der gut situierte Mittelstand

Die Entscheidungsträger beim "Lonely Planet" haben das selbst bereits vor vielen Jahren festgestellt. Der Verlag interessiert sich längst nicht mehr für Geschichten über Hippie-Sex und Drogen-Partys. Heute zählt einzig und allein der größtmögliche Marktanteil. Das Zielpublikum ist demzufolge der gut situierte Mittelstand. Die Bücher dürfen also keinesfalls anecken. Unappetitliches, Polemisches oder gar Schockierendes in Text oder Bild sind – so der Autor – absolut unerwünscht. Ein Buch soll verkauft werden, indem es das Reiseziel selbst verkauft. Während man früher noch Tipps erhielt, wie man sich etwa gratis in den Swimmingpool einer bestimmten Hotelanlage schummeln kann, findet man heute genau dieses Resort in der Rubrik "sehr empfehlenswert".

Das schlimmste aber, ätzt Kohnstamm weiter, während der Verlag reicher und reicher wurde, blieben die Löhne für die Autoren tief im Keller. Als er im Laufe der Reise erkennen muss, dass weder Zeit noch Geld für die geplanten Recherchen reichen, wirft er jegliche Moral über den Haufen und verletzt so ziemlich alle Richtlinien des Verlags. Er lässt sich einladen, nimmt Geschenke an und schreibt über Orte, die er nie gesehen hat.

Als Kohnstamm, der mehrere Reiseführer für "Lonely Planet" geschrieben hat, zum Erscheinen seines Enthüllungsbuches angibt, dass er für seinen Kolumbien-Führer das Land selbst überhaupt nie betreten hat, ist der Skandal perfekt. Ein weltweites Rauschen durch den Blätterwald ist die Folge. Überall fragt man sich: Wie entstehen Reiseführer wirklich? Und wie sehr kann man ihren Inhalten trauen? Der "Lonely Planet" reagiert auf die Vorwürfe übrigens mit dem Hinweis, dass man nach Überprüfung der Beiträge Kohnstamms keinerlei Inkorrektheiten gefunden habe.

Zum Hotspot mutiert

Viel gehaltreicher und spannender als Kohnstamms Offenbarungen sind der irrwitzige und sehr amüsant geschriebene Reisebericht selbst, sowie seine danach grundlegend geänderten Ansichten über das Reisen. Er beschreibt äußerst eindrücklich, was passiert, wenn Tausende Menschen blindlings Wort für Wort und Tipp für Tipp einer Reisebibel folgen. Er führt vor Augen, welche gravierenden Auswirkungen dieses Verhalten auf das Leben der Einheimischen hat, wenn aus verschlafenen Nestern Hotspots werden, wo es von Strandyoga bis zu Crêperien plötzlich alles gibt. Hat ein führender Reisebuchverlag nämlich einmal einem kleinen, versteckten Piratennest sein Gütesiegel verliehen, gibt es kein Zurück mehr.

Die nächsten Schritte werden sein: gepflasterte Straßen, direkte Verkehrsanbindungen, eine offizielle Website auf Englisch, Geldautomaten, Pornovideo-Verleiher, Ferienwohnungen, Schüler- und Studentenpartys für die internationale Klientel und kanadische Rentner in orthopädischen Turnschuhen. Ich kann das alles schon riechen.

Service

Thomas Kohnstamm, "Die absolut ehrlichen und völlig schamlosen Bekenntnisse eines professionellen Reiseführer-Autors", aus dem Englischen übersetzt von Gaby Wurster, Malik Verlag

Malik Verlag - Thomas Kohnstamm

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