Lyrik ist cool!

Der Anthologist

Wozu verstrickte Plots, wenn sie den Blick auf das eigentliche Thema, die Vielgestaltigkeit der Lyrik, nur verstellen würden, scheint sich Nicholson Baker zu denken. Er lässt seinen Anthologisten durch alle Formen der Lyrik schweifen.

"Es besteht kein Zweifel, dass in unserer Zivilisation die Poesie die bei weitem verrufenste Kunst ist, die einzige Kunst, der der Durchschnittsbürger keinen Wert abgewinnen kann." Dieser Satz stammt nicht von einem überzeugten Lyrik-Hasser, sondern von George Orwell, der sich Anfang der 1940er Jahre redlich um die Vermittlung und Popularisierung englischsprachiger Lyrik über das Radio bemühte. Geändert haben solche Initiativen freilich wenig: Wer liest heute Gedichte, außer zwangsweise im Deutschunterricht?

Einer tut es, nämlich der Protagonist in Nicholson Bakers Roman "Der Anthologist". Paul Chowder ist ein lässiger Vorstadt-Amerikaner, der zwischen die Gedanken an seine Nachbarin nachmittags auf der Veranda auch gleich über Versmaße sinniert. Ansonsten ist Chowder ein eher unauffälliger Typ. Seine Lebensgefährtin Rosslyn hat ihn nach acht Jahren verlassen, sein Hund haart, weil gerade Sommer ist, und er fährt mit seinem Auto nie über den Seitenstreifen.

Seine Welt vermisst er lyrisch: Gedanken über Nachbarn, Familie, Freunde und den Rest der Welt schweifen stets ab in ein Plädoyer für den Reim oder eine Erörterung über die Existenzberechtigung des fünfhebigen Pentameters. Er ist einer, der Lyrik wichtig und ernst nimmt, und damit bleibt er nicht nur in der amerikanischen Gesellschaft ein Außenseiter. Tatsächlich ist Chowder, der seit seinem 14. Lebensjahr Gedichte schreibt, viel mehr als nur ein verschrobener Verfechter der gebundenen Rede. "Ich bin der klassische Versager", sagt er über sich. Vom Ruhm ist er eine Galaxie entfernt, er gehört zu jenen, die sich einmal nur im gleißenden Schein des Rampenlichts sonnen wollen, insgeheim aber wissen, dass es nie dazu kommen wird, allein schon weil Lyrik nicht massentauglich ist.

"Reim Allein"

Chowder quälen freilich nicht Weltschmerz oder Liebeskummer, sondern die banale Tatsache, dass er eine Einleitung für eine Lyrik-Anthologie mit dem sinnigen Titel "Reim Allein" schreiben muss und die Abgabe des Manuskripts ständig hinausschiebt. Dabei ist es nicht nur die Phobie vor dem weißen Blatt, die Chowder die Worte in irgendeiner Gehirnwindung stecken bleiben lässt. Immer wieder kramt er alte Anthologien englischer und amerikanischer Lyrik hervor, die Werke anderer Anthologisten also, um zu merken, wie stark sich die Ansprüche an die Form und den Inhalt von Gedichten mit der Zeit gewandelt haben.

Chowders Ausführungen sind eine Tour d'Horizon durch ein paar Jahrhunderte Lyrik-Geschichte. Nicholson Baker gelingt damit anspruchsvolle Unterhaltung für jene, die ihr Mittelschulwissen über lyrische Formen auffrischen wollen oder überhaupt erst die Lust daran entdecken möchten.

Hinter den Kulissen

Und zu entdecken gibt es freilich viel: Baker blickt hinter die Kulissen von Dichterbiografien, wühlt in deren Manuskripten, analysiert behende Metren und Reimschemata und weiß manche Anekdote aus dem Privatleben der Wortkünstler zu berichten. Dabei stellt sich heraus, dass es mitunter banale Umstände sind, die zeitlose Werke der Weltliteratur hervorrufen können: Weil der Nordstaatler Henry Wadsworth Longfellow 1848 kein einziges Gedicht des Südstaatlers Edgar Allan Poe in seine Lyrikanthologie "The Waif" aufgenommen hatte, war Poe dermaßen fassungslos, dass er diese furiose Energie in sein berühmtestes Gedicht "The Raven" (Der Rabe) steckte, eine Vokalsymphonie der besonderen Art.

Bakers beinah schnoddriger Erzählstil ist im Reich der jambischen Fünfheber, der Enjambements und englischen Strophenformen als Kontrast zu der Vielfalt an Normen und Regeln der Poesie gut gewählt, auch wenn er streckenweise nervt. Leser, die sich eine aufregende Handlung erwarten, gehen hier leer aus – zu Recht nahezu, denn wozu verstrickte Plots, wenn sie den Blick auf das eigentliche Thema des Buches, die Vielgestaltigkeit der Lyrik nämlich, ohnehin nur verstellen würden. Und todernst geht es auf keiner Seite zu: Edgar Allan Poe etwa darf ein zweites Mal vor den Vorhang treten, diesmal im Waschsalon beim Unterhosen-Zusammenlegen. Über den "Raben" schweigt er sich bei dieser Gelegenheit aber aus.

Reine Reime

Es scheint, als wolle Baker die jahrtausendealte literarische Gattung Lyrik dem Publikum von heute auf dem Weg einer hippen, dennoch aber reflektierten und originellen Stillage zurückerobern. Lyrik ist cool, Leute! Und tatsächlich sind wir der Lyrik tagtäglich geradezu ausgesetzt, allein schon wenn wir das Radio aufdrehen. Jeder noch so simpel gestrickte Pop-Song gehorcht den mitunter einfachen Konstruktionsmustern der Lyrik, und wenn es nur ein paar reine Reime sind. Und wer sich nicht zumindest an Auszählreime aus seiner Kindheit erinnert, hat etwas verpasst.

Eine Meinung über Bakers Roman müsste eigentlich lyrisch formuliert sein. Wir versuchen es mit einem Limerick (für alle Aficionados: Ein Limerick ist ein Fünfzeiler, der dem Reimschema aabba folgt. Die Anzahl der Hebungen ist mit drei im ersten Vers, ebenfalls drei im zweiten, zwei im dritten und vierten und drei im fünften Vers festgelegt. Der englische Limerick gibt für gewöhnlich Humorvolles, Ironisches, mitunter auch Derbes wieder):

Nicholson Baker aus Maine
hat viele Gedichte geseh'n.
Sein "Anthologist"
ist zwar kein Mist.
Doch manchmal lässt er sich geh'n.

Text: Ernst Grabovszki

Service

Nicholson Baker, "Der Anthologist", aus dem Englischen übersetzt von Matthias Göritz und Uda Strätling, C. H. Beck

C. H. Beck - Der Anthologist