Der Balkan als Europas bequemes Vorurteil

Balkanisierung und balkanische Verhältnisse

Zur geographischen Region Balkan werden heute die Länder Bulgarien, Rumänien, die Nachfolgestaaten Jugoslawiens und Albanien gezählt. Aber was ist wirklich kennzeichnend für den Balkan: Archaische Gesellschaftsstrukturen? Korrupte Politik? Krieg?

Den Eindruck könnte man nach einer Analyse des politischen, journalistischen und wissenschaftlichen Diskurses über den Balkan in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten bekommen, kritisiert die Historikerin Maria Todorova und weist darauf hin, dass der Balkan schon seit jeher von außen definiert worden ist - es sei demnach höchst an der Zeit ebendiese Definitionen und Vorstellungen zu "normalisieren".

Maria Todorova ist gebürtige Bulgarin und lebt heute in den USA - sie ist derzeit als Professorin für Geschichte an der University of Illinois tätig. Im Jahr 1997 hat Maria Todorova mit ihrem Grundlagenwerk "Imagining the Balkans" - zu Deutsch "Die Erfindung des Balkans" - in West-Europa gehegte Balkan-Stereotypen seziert. Und nachvollziehbar gemacht, wie diese der Selbstvergewisserung EU-Europas als Hort der Zivilisation dienten.

Was sollen "balkanische Verhältnisse" sein?

Als besonders störend und unpassend entlarvte Todorova in diesem Zusammenhang das Schlagwort der "balkanischen Verhältnisse", das seit dem Ende der 1980er Jahre ungeniert von Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Journalismus in EU-Europa und den USA verwendet wurde.

Gemeint war damit vieles: vom Verfall der so genannten guten Sitten, über die gewalttätige Auflösung von Vielvölkerstaaten in verfeindete Nationalstaaten, bis zur Behauptung, dass Gewalt und Krieg dem Balkan quasi unauslöschlich eingeschrieben seien - und er damit EU-Europas unwürdig bleibe. Todorova bezeichnete das als "Balkanismus", dessen Funktion es sei, die politische Distanz zu und die mangelnde Beschäftigung mit der Region zu legitimieren.

Ist die Balkanismus-Diskussion zurückgegangen?

Fast exakt 13 Jahre nach der Veröffentlichung ihres wegweisenden Werks sagt die Historikerin: "Rumäniens und Bulgariens EU-Beitritt war der Höhepunkt einer Entwicklung, der noch 1998 unmöglich so vorausgesagt hätte werden können. Keine Frage: Der Balkanismus - Diskurs verläuft deutlich abgeschwächter - aber ist er als erklärendes Moment für die Entwicklungen in der Region wirklich verschwunden? Betrachten wir zunächst einen anderen Diskurs: Den über die Natur des Islams und die Probleme des Nahen Osten. Es ist wichtig, das ins Auge zu fassen: Anders als beim Balkanismus, gegen dessen Abfälligkeiten man sich in den betroffenen Ländern verteidigen konnte, werden die Stereotypen über den Islam bzw. den Nahen Osten aktiv rezipiert und zum Teil am Balkan selbst generiert."

Wie im Fall der Nachfolgestaaten Jugoslawiens oder auch Albaniens, distanziert man sich heute von der Türkei - der dafür meistgenannte Grund: die historisch bedingt "anders" - gemeint ist in diesem Fall muslimisch - geprägte Kultur. Gegen ebendiese Sichtweise argumentiert Todorova und betont, dass seit Jahrhunderten Dichotomien zwischen dem so genannten Osten und dem so genannten Westen erzeugt werden.

Jede Region hat ihre Geschichte

"Deutsche Reise-Schriftsteller versuchen seit dem 15. Jahrhundert mit geographischen Methoden Europa zu definieren. Das ist auf eine Renaissance der Methodologie aus der Zeit der klassischen Antike zurückzuführen - damals definierte man Europa übrigens als Region zwischen Konstantinopel und dem Fluss Don in heutigem Russland. Die wohl wichtigste Persönlichkeit in diesem Zusammenhang ist Äneas Silvius Piccolomini auch bekannt als Pius der Zweite. Seine Arbeit beeinflusste Generation von ihm nachfolgenden Gelehrten. Piccolominius verfocht in seinem Werk die mannigfachen Unterschiede zwischen Asien und Europa und prägte den Begriff "europäisch". Europa definierte er als christliche Einheit, die Christen am Balkan waren für ihn das Bollwerk gegen den Islam. Wir leben noch heute mit den Folgen seines Vermächtnisses. Lassen sie mich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Reise Bendedikts XVI. in die Türkei weniger das Ziel hatte, die Beziehungen zu den Muslimen zu kitten, sondern die zu den orthodoxen Christen", sagt Todorova.

Keine Frage: Jede Region ist durch seine Geschichte geprägt worden. Jeder Staat ist das Resultat eines komplexen Wechselspiels von unzähligen historischen Ereignissen, Traditionen und Vermächtnissen.

Kontinuierliches Erbe

"Ich unterscheide hier zwischen einem Erbe der Kontinuität und einem Erbe der Perzeption. Unter ersterem verstehe ich Charakteristika der staatlichen oder regionalen Gemeinschaft, die sich auch nach deren Zerfall erhalten haben. Unter letzterem verstehe ich wiederholte Äußerungen darüber, wie die Gemeinschaft zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen Menschen bzw. Gruppen definiert worden ist, meint Todorova.

Als Beispiel für ein kontinuierliches Erbe können Organisations-Strukturen genannt werden, als Beispiel für perzipiertes Erbe, das, woran wie erinnert wird. Beide Formen bedingen sich gegenseitig, so Todorova. Wichtig sei dabei jedoch, nicht zu vergessen, dass Staaten auswählen können, welches Erbe sie sich selbst und anderen zuschreiben und welches sie ausblenden.

Das gelte auch für das Fallbeispiel Türkei. Von dem Land distanziere sich EU-Europa derzeit wegen seines osmanischen Erbes, während es sich selbst als homogen und christlich stilisiert, so Todorova als Antwort auf eine Frage aus dem Publikum.
Zweifelsohne wird in den kommenden zehn Jahren den Diskurs über EU-Europa die Frage eines möglichen Beitritts der Türkei dominieren, so Todorova. Ausgewählte Aspekte aus der Geschichte des Landes werde dabei für Pro-, andere wiederum für Contra-Argumente herhalten müssen.