Wohlstand ohne Wachstum
Exit
"Die Zeit ist reif, gegenüber Wirtschaftswachstum und materieller Wohlstandsmehrung eine nüchtern-aufgeklärte Haltung einzunehmen", meint Meinhard Miegel. Sein neues Buch zeigt, "dass Wachstum auf kurze Sicht zumeist Wohltat, auf längere hingegen nicht selten Plage ist".
8. April 2017, 21:58
Begrenzen oder beschleunigen?
Als 1972 der amerikanische Ökonom Dennis Meadows mittels einer computergestützten Simulation die Situation der Erde als Wirtschaftsraum bis zum Jahr 2100 darstellte, waren die Reaktionen heftig: Als Katastrophenszenario wurde die Simulation bezeichnet, als unverantwortlicher Unsinn und als subjektive Horrorvision.
Was war geschehen? Meadows hatte, im Auftrag des Club of Rome und auf der Basis der aktuellen Entwicklung, ein Ende des wirtschaftlichen Wachstums innerhalb der nächsten 100 Jahre vorausgesagt. "Die Grenzen des Wachstums" heißt sein mittlerweile zum Klassiker gewordenes Buch, dessen Ergebnisse später korrigiert, in der Tendenz aber bestätigt wurden.
Konsequenzen in der Politik gab es kaum. "Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen", predigt etwa die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, als hätte es Meadows & Co nie gegeben, und bringt, geschockt von der Banken- und Wirtschaftkrise, ein sogenanntes "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" auf den Weg. Die in diesem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen würden mehr schaden als nutzen, gibt sich der in Wien geborene Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel überzeugt. Wohlstand sei auch ohne Wachstum möglich, meint der langjährige CDU-Mitarbeiter Miegel in seinem neuen Buch "Exit. Wohlstand ohne Wachstum".
"Das ist der untaugliche Versuch, eine Sache in Bewegung zu setzen, die so nicht in Bewegung zu setzen ist", so Miegel. "Wachstumsbeschleunigungsgesetz: Was soll da eigentlich beschleunigt werden? Wie? Es ist heute schon absehbar, dass durch die Maßnahmen, die da vorgesehen sind, mehr Schaden als Nutzen gestiftet wurde."
"Die Zeit ist reif, gegenüber Wirtschaftswachstum und materieller Wohlstandsmehrung eine nüchtern-aufgeklärte Haltung einzunehmen und die bislang oft irrationalen Schwärmereien zu beenden", meint Meinhard Miegel, liberal-konservativer Publizist und Politikberater, und zeigt in seinem Buch, "dass Wachstum auf kurze Sicht zumeist Wohltat, auf längere hingegen nicht selten Plage ist."
Aber stimmt denn die Formel nicht, ohne Wachstum keine Vollbeschäftigung, ohne Vollbeschäftigung kein Wohlstand, ohne Wohlstand keine Investitionen in Umweltschutz, Bildung und Kultur?
"Ich bin dieser Tage gefragt worden", sagt Miegel, "was denn eigentlich wäre, wenn die griechische wirtschaftliche Leistungskraft um 25 Prozent zurückginge - was ja sehr viel ist. Ich konnte die Antwort nicht sofort geben, ich habe dann einmal nachgeschaut. Das würde bedeuten, dass die Griechen leben würden wie im Jahre 2000. Selbstverständlich haben wir im Jahre 2000 oder 1990 Schwimmbäder gehabt, Theater, Orchester. Wir hatten ja ein voll funktionsfähiges Gemeinwesen. Die Menschen hatten auch nicht das Gefühl, es ginge ihnen schlecht."
"Kultur des Verzichts"
Meinhard Miegel, viele Jahre lang aktiv an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft und trotz seiner Nähe zur CDU kein Ghostwriter konservativer Regierungsprogramme, lieferte einst Diskussionsstoff mit seiner unter dem Titel "Die deformierte Gesellschaft" entlarvten "Lebenslüge" des Sozialstaats und knüpft nun mit seiner aktuellen Schrift an seinen 2005 propagierten "Epochenwandel" an, eine Studie über Wachstumsraten, Wirtschaftskrisen und Staatsverschuldung, die nichts weniger als eine "Kultur des Verzichts" forderte.
"Warum sind wir, um elementare Bedürfnisse, wie zum Beispiel Beschäftigung, befriedigen zu können, so vom Wachstum abhängig", fragt Miegel. "Das wiederum hat etwas mit unserer Organisationsform zu tun, die etwa mit Beginn der Industrialisierung einsetzt. Zu diesem Zeitpunkt werden in enormen Umfang Energieträger eingesetzt, um die Produktivität des Wirtschaftens zu erhöhen. Und die Energieträger sind, weil die Preise völlig falsch kalkuliert werden, viel billiger als menschliche Arbeitskraft. Das wiederum bedeutete, dass mit jedem Produktivitätsfortschritt, sprich mit jedem zusätzlichen Energieeinsatz, menschliche Arbeitskraft mehr und mehr marginalisiert worden ist. Solange wir an diesem Muster festhalten, solange wir keine richtigen Preise für Energie haben und für andere Faktoren, für Rohstoffe, so lange bleibt das Problem bestehen, dass wir permanent Beschäftigungslosigkeit haben, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Aber die Problemlösung kann ja nicht darin bestehen, dass wir bis zum Sankt Nimmerleinstag wachsen und wachsen, dabei Umwelt und Natur kaputt machen, die Gesellschaft beschädigen, die Individuen beschädigen, nur damit wir arbeiten können. Das ist eine so verquere Logik, dass man staunt, dass sie sich so lange hat halten können."
Das Mantra des Industriezeitalters
Tatsache aber ist - und das weiß auch Miegel -, dass "in kaum einem anderen Bereich der Konsens der Politiker und Parteien so vollkommen und bedingungslos ist wie in dieser Frage": Alle wollen Wachstum. Das war nicht immer so. Steigender Umsatz, höhere Gewinne, immer mehr Konsumgüter sind das Mantra erst des Industriezeitalters. In den tausend Jahren zwischen Karl dem Großen und Napoleon hat sich nach Schätzung der Wirtschaftshistoriker die pro Kopf erwirtschaftete Gütermenge gerade einmal verdoppelt - ein Wachstum, das faktisch nicht spürbar war.
Heute fordern Politiker eine Wachstumsquote von jährlich drei Prozent, was, wie Miegel errechnet hat, eine Verdoppelung der Güter- und Dienstemenge alle 23 Jahre bedeutet. Solche Wachstumspostulate aber, so der Autor, "taugen nichts für zukunftsweisende oder gar weltumspannende Lebensmodelle".
"Interessanterweise sagen dieselben Personen, die bekunden, ohne Wachstum ist alles nichts, 'für mich persönlich ist das Wachstum gar nicht so wichtig, ich habe ja, was ich brauche ...' Das ist schon ein ganz offenkundiger Widerspruch, der deutlich belegt, dass Wachstum, so wie wir es heute haben, gar nicht mehr existenzsichernd ist, sondern quasi religiös", meint Miegel. "Wir machen das alles, damit wir die Sinnfrage in irgendeiner Weise beantworten können. Und das Heilsversprechen dieser Gesellschaft war und ist: 'Wir werden deinen materiellen Wohlstand mehren.' Und eine Gesellschaft, die ihr Heilsversprechen nicht mehr erfüllt, gerät in Turbulenzen. Und das merken wir im Moment."
Westliche Demokratien in Gefahr
Und wir werden es noch lange merken. Die Weltwirtschaftskrise 2008, ausgehend vom Banken- und Börsencrash in den USA, war weder ein singuläres, noch ist sie ein überwundenes Phänomen. Krisen, ausgelöst vom Fieber nach einem nicht dynamischen, sondern geradezu exzessiven Wachstum, werden immer schneller und immer heftiger kommen, glaubt Meinhard Miegel. Mit weitreichenden Folgen. Die Kosten werden die Gewinne in den Schatten stellen, nicht nur die finanziellen wie Staatsverschuldung: Zerstörung der Umwelt; Vernichtung von Ressourcen; gesellschaftliche Ungleichgewichte, sozialer Unfrieden.
Die "schuldenfinanzierten Wohlstandsillusionen" aber werden nicht ewig währen: "Wir werden jetzt in immer größerem Tempo erleben, wie eine Schote nach der anderen platzt. Und insofern ist das gar keine hellseherische Fähigkeit, wenn ich sage, diese Krisen gehen weiter, sie werden härter werden", sagt Miegel. "Wir befinden uns also in der Situation, dass die Bevölkerung ernüchtert werden könnte bis hin zu dem Risiko, dass sie sich von der demokratischen Ordnung abwendet. Und das muss verhindert werden."
"Immaterielle Wohlstandsformen" als Ziel?
Es bedarf einer Umorientierung, eines Bewusstseinswandels, einer neuen Balance, sagt Meinhard Miegel - nicht nur, weil die immensen Wachstumsquoten der Vergangenheit angehören. Nicht nur, weil Raubbau an der Umwelt und Ausbeutung natürlicher Ressourcen nicht endlos weitergehen können. Sondern auch, weil die Bevölkerung immer länger lebt und immer kürzer erwerbstätig ist. Wer Wohlstand nur nach materiellen Gesichtspunkten bemisst, wird eine böse Überraschung erleben.
"Immaterielle Wohlstandsformen" heißt daher die Losung der Zukunft. "Immaterielle Wohlstandsformen, das ist die Fähigkeit des Menschen, sich an Dingen zu erfreuen", erklärt Miegel. "Das beginnt mit Freude an der Natur, der Kunst, der Musik, Freude an einer fremden Sprache. Ein Blick in eine andere Kultur, ein guter Freundeskreis, eine intakte Familie ... Oder so etwas wie kreative Muße. Das ist eine immense kulturelle Leistung, Menschen in die Lage zu versetzen, müßig im besten Sinne des Wortes zu sein."
Miegel will aus der Not eine Tugend machen. Wenn wir nicht mehr auf mehr Geld, exklusivere Konsumgüter oder wachsenden Immobilienbesitz hoffen dürfen, sollten wir uns in Bescheidenheit üben - und anderes als Quelle des Wohlergehens schätzen lernen: Freizeit, Freunde oder Familie, soziales Engagement und Gemeinsinn, kulturelles Interesse und Kreativität.
Miegel spricht von der "Entfaltung emotional-sozialer Potentiale der Gesellschaft", von der "Revitalisierung der spirituell-kulturellen Dimension des Menschen". Wer dazu die Impulse geben soll, ob das einfach nur eine Frage des Umdenkens, der persönlichen Entscheidung ist, ob einem dazu das bestehende System überhaupt genügend Spielraum lässt und was der Beitrag ist, den Staat und Wirtschaft zu leisten hätten, wird nicht weiter ausgeführt.
Wenn Miegel klar zu machen versucht, "welche geringen materiellen Mittel der Mensch zu einem erfüllten Leben braucht" - hat er dann tatsächlich auch die Mietpreise in den Großstädten im Blick, die Höhe der Versicherungsbeiträge, die Kosten des Gesundheitswesens? "Eine zentrale Aussage meines Buches ist ja die, dass diese Veränderungen, dieser Rückgang des materiellen Wohlstands, so oder so kommen wird", sagt Miegel. Er empfiehlt daher, das Lebensglück anders zu gewährleisten als durch die Mehrung materiellen Wohlstands.
Viele Appelle, vage Lösungen
Keine Frage, "Exit. Wohlstand ohne Wachstum" mag es auch kein großer gesellschaftspolitischer Entwurf sein, ist vom Ansatz her sympathisch: Wachstum ist nicht Wohlstand. Verzicht nicht Verlust. Weniger ist mehr. Ideelles geht vor Materielles.
Meinhard Miegel liefert eine pointiert vorgetragene, immer wieder mit Zahlen untermauerte Gesellschaftsdiagnose und Zivilisationskritik - überzeugend in der Analyse des Status quo, aufschlussreich im historischen Rückblick, plausibel in der Darstellung der Zukunftsaussichten - und vage im Aufzeigen der Alternativen. Den "Exit", den Ausgang aus der Wachstumsfalle, zeigen nur verschwommene Hinweisschilder. Miegel belässt es bei Appellen und Mahnungen. Offen bleibt, ob diese tatsächlich gehört werden. Oder ob nicht letzten Endes doch Dennis Meadows' Spruch wahr werden wird vom "overshoot and collapse" - vom Überschreiten der Wachstumsgrenzen mit anschließendem Kollaps.
Service
Meinhard Miegel, "Exit. Wohlstand ohne Wachstum", Propyläen Verlag
Ullstein Buchverlage - Propyläen
The Club of Rome